Immer wieder wird französischen Grenzpolizisten vorgeworfen, Flüchtlinge ohne genaue Prüfung ihres Rechts auf einen Asylantrag nach Italien zurückzuspedieren, auch Minderjährige. Wer dennoch über die Grenze kommt, trifft in Briançon auf eine Art Willkommenskultur – etwa im Refuge Solidaire.
An der Rue Pasteur in der südostfranzösischen Kleinstadt in den Alpen wird getanzt. Fünf Künstler sind aus dem Zentrum des Landes angereist, 500 Kilometer weit, mit ihren Instrumenten und einem Kleinlaster voller Lebensmittel und Hygieneartikel; alles Spenden der Bevölkerung.
Drinnen im Haus, sagt die 23-jährige Pauline, eine der Verantwortlichen: «Ich bin wütend, dass der Staat keinen Effort leistet, um die Leute unterzubringen, dass ganze Familien draussen schlafen müssen, dass man so tut, als würde das alles nicht existieren. Als kämen die Leute nicht. Aber sie kommen.»
«Wir haben unser Leben riskiert»
William stammt aus Kamerun. Vor drei Tagen versuchte er zum zweiten Mal, die Grenze in den Bergen zu überqueren. Beim ersten Mal wurde er nach Italien zurückgeschafft. Jetzt sitzt er an einem Tisch im Refuge Solidaire.
«Wir wussten, dass das nicht legal ist», sagt er. Dass der Marsch durch die Berge gefährlich sein kann, habe ihn aber nicht gekümmert: «Wir haben unser Leben riskiert, seit wir unser Land verlassen haben. Wir haben das Mittelmeer überquert. Schlimmer konnte es nicht werden.» Nun wolle er zur Ruhe kommen, ein Asylgesuch beantragen, eine Unterkunft und Arbeit suchen.
Was wir zunehmend vernehmen, sind Fälle von Polizeigewalt. Leute, die gestossen oder geschlagen werden. Geld, das auf mysteriöse Weise verschwindet.
Gegen 6500 Migranten sind hier in den letzten anderthalb Jahren angekommen und dann weitergezogen. Das Haus ist konstant überbelegt.
Insgesamt 200 Freiwillige kümmern sich um die Ankommenden. Ums Kochen, Waschen. Um Fragen wie: Wo kann man ein Asylgesuch stellen, wie kommt man dahin? Sie erklären ihnen, dass sie in Frankreich möglicherweise kein Asyl erhalten, und bringen Verletzte zum Arzt. «Die Leute kommen in der Regel müde an, zum Teil haben sie Verstauchungen», erzählt Pauline.
Weil sie in den Bergen gerannt und gefallen seien, verfolgt von der Polizei. «Was wir zunehmend vernehmen, sind Fälle von Polizeigewalt. Leute, die gestossen oder geschlagen werden. Geld, das auf mysteriöse Weise verschwindet. Das hat zugenommen. Warum, wissen wir nicht.»
Auch wenn die Bevölkerung von Briançon den Freiwilligen eher wohlwollend gegenüberzustehen scheint: Es kommt nicht überall gut an, dass das Refuge Solidaire sowie andere Vereinigungen mutmassliche Fälle von Polizeigewalt und die Rückweisungspolitik an der Grenze öffentlich anprangern.
Vorwurf der Sogwirkung
Auch nicht, dass bis vor kurzem jede Nacht Freiwillige die Alpenpässe nach Migranten in Not abgesucht haben. Arnaud Murgia von den konservativen Republicains mit mutmasslichen Ambitionen aufs Stadtpräsidium wirft diesen Freiwilligen Militanz und politischen Aktivismus vor.
Sie würden dazu beitragen, dass immer mehr Migranten kommen. Er sei fest davon überzeugt: Das Refuge Solidaire müsse geschlossen werden.
Bei den Freiwilligen des Refuge Solidaire scheint man von solchen Worten wenig beeindruckt. Benoît Ducos ist einer von ihnen. Er sagt dazu: «Auch wenn man uns vorwirft, wir würden eine Sogwirkung ausüben, weil es das Refuge Solidaire gibt und wir den Leuten in den Bergen helfen, sind wir davon überzeugt: Die Leute werden trotzdem kommen. Nur wird es möglicherweise mehr Tote geben. So wie es auch im Mittelmeer passiert ist.»