Das ist geschehen: Ein Paukenschlag trifft das oppositionelle Lager in der Türkei schwer. Die erfahrene Lokalpolitikerin Özlem Cercioglu wechselt überraschend von der oppositionellen CHP zur Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Cercioglu ist seit 2009 Bürgermeisterin von Aydin im Westen der Türkei und wurde erst letztes Jahr wiedergewählt. Aydin gilt als CHP-Hochburg, weshalb der Journalist Thomas Seibert den Schritt als «spektakulären Polittransfer» bezeichnet. Die AKP zelebrierte den Übertritt demonstrativ: Präsident Erdogan hiess Cercioglu am Donnerstag persönlich beim 24. Gründungsjubiläum der Partei willkommen.
Zwei Sichtweisen zum Parteiwechsel: Die Gründe für diesen abrupten Wechsel werden kontrovers diskutiert. Cercioglu selbst gibt Meinungsverschiedenheiten mit ihrer Partei an, sie habe in der CHP «keine Zukunft mehr für sich gesehen». Die CHP-Führung hingegen spricht von Erpressung durch die AKP. Thomas Seibert fasst die Vorwürfe zusammen: «Im Grunde genommen sei ihr gesagt worden: Komm zu uns oder geh ins Gefängnis». Gegen sie und ihren Mann liefen rund 20 Prozesse. Bis jetzt gibt es laut Seibert in keinem dieser Verfahren eine Entscheidung. Die Opposition sagt, Cercioglu sei signalisiert worden, dass sie vor Gericht gestellt werde, wenn sie nicht einlenke, und deshalb habe sie diesen Weg gewählt.
Repression gegen Opposition: Dieser prominente Übertritt ereignet sich vor dem Hintergrund anhaltender Verhaftungen, die seit März die CHP treffen. «Es ist ein weiterer schwerer Schlag gegen die CHP», sagt Seibert. Die Partei werde seit März von einer Verhaftungswelle der regierungstreuen Justiz überrollt. Parallel dazu wurden jüngst 40 Personen in der Türkei festgenommen, darunter Oppositionelle und Journalisten. Bereits im März wurde der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu verhaftet, gefolgt von über einem Dutzend weiterer CHP-Bürgermeister. Insgesamt wurden in weniger als einem Jahr mehr als 500 Personen festgenommen.
Folgen und Reaktionen: Das innenpolitische Klima wird «noch schwieriger als vorher», so Seibert. Die nötige Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition, etwa bei der Kurdenfrage, wird dadurch erheblich belastet. Die Opposition ist «entsetzt über diesen Schritt», so Seibert, und äussere weiterhin den Erpressungsverdacht. Die CHP fordert den Rücktritt von Cercioglu und Neuwahlen, was laut Seibert «natürlich nicht geschehen» wird, da die AKP ihre neu gewonnene Machtposition nicht aufgeben werde. Die CHP verurteilt den Akt als «antidemokratisch». Der stellvertretende AKP-Vorsitzende Hayati Yazici weist den Erpressungsverdacht als «völlig unwahr» zurück. Erdogan selbst hat Cercioglu in Schutz genommen. Er sagte, das seien unmoralische Anwürfe gegen die Politikerin und kündigte an, noch mehr Druck auf die CHP zu machen. Zudem sind am Donnerstag zum AKP-Gründungsjubiläum noch weitere CHP-Lokalpolitiker zur Regierungspartei übergetreten.