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Das Erbe der Solidarnosc
Aus Echo der Zeit vom 06.05.2021. Bild: Keystone
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Polens «Solidarnosc»-Bewegung Wie aus Solidarität Unversöhnlichkeit wurde

Die «Solidarnosc»-Bewegung hat Polen in die Demokratie geführt. Aber von der Solidarität von damals ist nichts mehr übrig.

«Das ist ein grosser Moment», rief Lech Walesa Ende August 1980 den Streikenden in der Danziger Lenin-Werft zu. «Wir müssen das Eisen schmieden, solange es noch heiss ist.» Die kommunistischen Machthaber in Warschau hatten gerade die Gründung der ersten freien Gewerkschaft im ganzen Ostblock bewilligt. Sie bekam den Namen «Solidarnosc» – Solidarität.

Wie gross dieser Moment war, konnte selbst Walesa damals noch nicht erahnen. Niemand konnte sich Anfang der 1980er-Jahre vorstellen, dass die «Solidarnosc» schon ein paar Jahre später in Polen die Kommunisten an der Macht ablösen und mitverantwortlich sein würde für den Zerfall des Ostblocks.

Die ‹Solidarnosc› war offen für ganz unterschiedliche Ideen.
Autor: Basil Kerski Direktor des Europäischen «Solidarnosc»-Zentrums

Der deutsch-polnische Politologe Basil Kerski ist Direktor des Europäischen «Solidarnosc»-Zentrums in Danzig. Der Museumsdirektor sagt: «Der ‹Solidarnosc› ist es auf einzigartige Weise gelungen, die Polinnen und Polen hinter sich und ihren Einsatz für die Menschen- und Bürgerrechte zu scharen.»

Bald hatte die Bewegung zehn Millionen Mitglieder. Fast jeder vierte Einwohner und jede vierte Einwohnerin zahlten den Mitgliederbeitrag. «Wobei es besonders fatal für die Kommunisten war, dass auch viele Mitglieder der Einheitspartei der neuen Gewerkschaft beitraten», sagt Kerski. Der Erfolg der «Solidarnosc» erklärt sich einerseits aus der gewaltigen Unzufriedenheit mit dem kommunistischen System, vor allem mit der ineffizienten Planwirtschaft.

Lenin-Werft in Danzig
Legende: Das Europäische «Solidarnosc»-Zentrum auf dem Gelände der ehemaligen Lenin-Werft erinnert an die Geschichte der Bewegung. Direktor ist Basil Kerski. Das Werft-Tor ist eines der beliebtesten Fotomotive in Danzig. Getty Images

Andererseits habe auch die Offenheit der «Solidarnosc» für ganz unterschiedliche Ideen viele angezogen, sagt Kerski. «Atheisten schauten, was der Katholizismus zu bieten hat. Christen waren neugierig auf die Ideen der Atheisten. Menschen, die sozialistisch geprägt waren, interessierten sich für die Marktwirtschaft. Und Leute aus der Wirtschaft suchten nach Möglichkeiten, wie Wohlstand auch für die ärmeren Schichten der Gesellschaft geschaffen werden kann.»

Missgunst und verbale Brutalität

1989 brachten die Verhandlungen am Runden Tisch in Warschau Polen die Demokratie. Und aus der gewerkschaftlichen Bewegung «Solidarnosc» entstanden die grossen Parteien des Landes – die nationalistisch-konservative heutige Regierungspartei «Recht und Gerechtigkeit» genauso wie ihre liberale Hauptgegnerin, die heutige «Bürgerkoalition».

Die Demokratie machte aus Verbündeten gegen die Kommunisten Gegner, die sich in Wahlkämpfen gegenüberstanden. «Und doch hat sich in Polen bis zum EU-Beitritt 2004 eine gewisse Solidarität halten können», sagt der Direktor des Danziger «Solidarnosc»-Zentrums. «Doch seither tut sich Polen unglaublich schwer damit, eine politische Kultur zu etablieren, die auch auf Toleranz fusst.»

Wer vertritt das wahre Erbe der «Solidarnosc»?

Kerski ist ein freundlicher Mensch. Man könnte auch sagen: Die polnische Politik strotzt vor verbalen Brutalitäten, vor Missgunst. Und sie ist geprägt vom ewigen Streit, wer das wahre Erbe der «Solidarnosc» vertritt.

Die heutige Gewerkschaft «Solidarnosc» mit ihrer halben Million Mitgliedern sei es auf jeden Fall nicht, findet Leszek Balcerowicz. Er war Finanzminister in der «Solidarnosc»-Regierung gleich nach der Wende von 1989 und ist der Architekt des raschen Übergangs von der Plan- zur Marktwirtschaft in den frühen 1990er-Jahren.

Balcerowiczs Verdikt über die heutige «Solidarnosc» ist vernichtend: «Das ist nur noch eine Pseudo-‹Solidarnosc›. Die Bewegung ist gekapert worden von Leuten, die so tun, als seien sie Gewerkschafter, die aber vor allem einen Platz auf den Wahllisten der Regierungspartei ‹Recht und Gerechtigkeit› wollen.»

Solidarität mit national-konservativer Regierung

Tatsächlich sind sich die national-konservative Regierung und die heutige «Solidarnosc» nahe. Das zeigte sich zum Beispiel 2019, als die polnischen Lehrerinnen und Lehrer für eine Erhöhung ihrer mageren Löhne streikten. Da unterstützten alle grossen Gewerkschaften des Landes die Streikenden. Nur die «Solidarnosc» scherte aus und einigte sich mit der Regierung auf einen Kompromiss, der den anderen Gewerkschaften aber zu wenig weit ging.

Die Nähe zwischen «Solidarnosc» und Regierungspartei zeigte sich auch im vergangenen Jahr, als die Gewerkschaft in Danzig ihr 40-jähriges Bestehen feierte. Die Hauptredner waren der polnische Präsident Andrzej Duda und Regierungschef Mateusz Morawiecki, beides Vertreter von «Recht und Gerechtigkeit».

Morawiecki lobte die «Solidarnosc» als die schönste Bewegung der Welt und er erinnerte an die Helden der Bewegung – ohne allerdings Lech Walesa zu erwähnen, den Gründungspräsidenten der «Solidarnosc», den Friedensnobelpreisträger und ersten demokratisch gewählten Präsidenten des Landes. Das war gewiss keine zufällige Unterlassung: Lech Walesa ist ein erbitterter Gegner der heutigen Regierungspartei.

Die ‹Solidarnosc› wäre gerne eine einende Kraft in Polen.
Autor: Tadeusz Majchrowicz Mitglied im Führungsgremium der «Solidarnosc»

«Es ist schade, dass es die Solidarität über Meinungsgrenzen hinweg nicht mehr in der polnischen Politik gibt», sagt Tadeusz Majchrowicz. Er sitzt heute im Führungsgremium der «Solidarnosc». «Die ‹Solidarnosc› wäre gerne eine einende Kraft in Polen», sagt er. Aber sie werde die ganze Zeit attackiert von der liberalen Seite.

Schuldzuweisungen – nichts hört man öfter in der polnischen Politik. Am giftigsten sind dabei jene Männer, die in den 1980er-Jahren zusammen bei der «Solidarnosc» gegen die Kommunisten kämpften und noch heute die polnische Politik prägen: Leute wie Lech Walesa, der frühere Regierungschef und EU-Ratspräsident Donald Tusk oder Jaroslaw Kaczynski, der mächtige Chef der heutigen Regierungspartei.

Gehässigkeit verdeckt politische Ratlosigkeit

Auch Majchrowicz ist schon seit den 1980er-Jahren bei der «Solidarnosc». Seine Sympathien liegen bei Kaczysnki und seinen Nationalkonservativen. Aber auch er sagt: «Es ist tatsächlich schwer zu erklären, dass Leute, die zusammen gegen die Kommunisten kämpften, sich heute so unerbittlich streiten.»

Für den deutsch-polnischen Politologen Basil Kerski verdeckt die Gehässigkeit eine politische Ratlosigkeit. Viele Ziele von einst sind erreicht. Polen ist EU-Mitglied. Polen hat in puncto Wohlstand einige westliche Länder überholt und wächst weiter. Und Polen hat es auch geschafft, dass es vielen Verlierern der politischen Wende von 1989 wieder besser geht.

Basil Kerski
Legende: Polen fehle der gemeinsame Feind von früher, sagt der Politologe Basil Kerski. Getty Images

Aber das reiche nicht als politischer Kitt, glaubt Kerski. «Polen fehlt der gemeinsame Feind von früher. Und deshalb erschaffen sich die Politiker heute Feinde. Sie sind nämlich nicht in der Lage, den Menschen Ziele anzubieten, die Millionen von Polinnen und Polen vielleicht mitnehmen würden.»

Kerski findet, es müsste in der Politik heute darum gehen, trotz unterschiedlicher politischer Ansichten einen gemeinsamen Weg zu suchen durch die zunehmend unübersichtliche Welt. «Die grosse Kunst wäre es, im politischen Wettbewerb die Unterschiede aufzuzeigen und zugleich das gemeinsame Erbe zu pflegen.»

Zwei verschiedene Welten

Von diesem Ideal ist Polen jedoch weit entfernt. Das Land zerfällt in zwei weltanschauliche Hälften. Hier die Alten, dort die Jungen, hier die kirchentreue Landbevölkerung, dort die westorientieren Grossstädter. Das sind zwei Welten, die immer weiter auseinanderdriften.

Und trotzdem ist der Danziger Museumsdirektor überzeugt, dass die Polinnen und Polen sich auf die «Solidarnosc», die Solidarität von einst, besinnen werden. Aber vielleicht sei das erst möglich, wenn die verfeindeten alten «Solidarnosc»-Kämpfer die Politbühne verlassen haben.

Echo der Zeit, 06.05.2021, 18.00 Uhr

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