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«Viele haben resigniert» Polen: Kaum noch Widerstand gegen faktisches Abtreibungsverbot

Noch im Herbst gingen in Polen Hunderttausende auf die Strasse, um gegen ein faktisches Abtreibungsverbot zu protestieren. Ein Urteil des Verfassungsgerichts im fünftgrössten EU-Land hatte dazu geführt, dass ein Abbruch selbst bei schweren Missbildungen am Fötus illegal ist. Am heutigen internationalen Frauentag fanden sich im Zentrum von Warschau nur noch wenige Aktivistinnen, wie Osteuropa-Korrespondent Roman Fillinger berichtet.

Roman Fillinger

Osteuropa-Korrespondent

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Roman Fillinger ist Osteuropa-Korrespondent von Radio SRF. Von 2007 bis 2018 arbeitete er in verschiedenen Funktionen beim «Echo der Zeit», zuletzt als Moderator und stellvertretender Redaktionsleiter.

SRF News: Wie verliefen die Proteste im Warschau?

Roman Fillinger: Im Herbst waren in ganz Polen Hunderttausende auf der Strasse. Heute kamen gerade einmal ein paar hundert Demonstrierende zum Zentralbahnhof. Es hatte ähnlich viele Polizisten mit Schutzwesten und Schlagstöcken wie Demonstrierende mit Regenbogenfahnen und Kartonschildern.

Warum hat die Bewegung so viel Unterstützung verloren?

Viele haben wohl schlicht resigniert. Im Herbst ging noch ein Ruck durch das Land. Viele glaubten, die Proteste würden die rechtskonservative Regierung richtiggehend aus dem Amt fegen oder zumindest das faktische Abtreibungsverbot bodigen. Nichts ist geschehen.

Was wollen die Demonstrantinnen jetzt erreichen?

Es waren die gleichen Parolen wie im Herbst. Gefordert wurde das Recht, über den eigenen Körper entscheiden zu können. Und sie forderten den Rücktritt der Regierung. Herumgereicht wurde auch eine Petition für eine Fristenlösung bis in die zwölfte Schwangerschaftswoche sowie auch später, wenn der Fötus schwer missgebildet ist. Kommen genügend Unterschriften zusammen, muss sich zumindest das Parlament mit dem Vorschlag befassen.

Ist es denkbar, dass das Parlament das faktische Abtreibungsverbot aufhebt?

Das kann ich mir derzeit nicht vorstellen. Die Rechtskonservativen haben die absolute Mehrheit und werden kaum für eine Fristenlösung stimmen. Aus Überzeugung, aber auch weil sie nicht dem Verfassungsgericht in den Rücken fallen wollen. Das Problem ist: Das Verfassungsgericht wird von regierungstreuen Richterinnen und Richtern kontrolliert. Ausserhalb des Regierungslagers glaubt kaum mehr jemand an die Unabhängigkeit dieses Gerichts.

Die Gegnerinnen und Gegner wirken etwas hilflos...

Das stimmt. Ein Stück weit haben sich die Gegnerinnen des faktischen Abtreibungsverbots den Zerfall auch selbst zuzuschreiben. Einzelne Exponentinnen nahmen in den letzten Wochen und Monaten Extrempositionen ein, indem sie beispielsweise die vollständige Legalisierung von Abtreibungen ohne Fristen forderten. Das hat vermutlich viele verprellt, die zwar gegen das Urteil des Verfassungsgerichts waren, aber auch gegen ein derart liberales Abtreibungsrecht.

Das neue Recht gilt sechs Wochen. Hat es schon Auswirkungen?

Polnische Organisationen, die Frauen bei Schwangerschaftsunterbrüchen helfen, erhalten nach eigenen Angaben viel mehr Anrufe als vor dem Urteil. Viele Frauen hätten Angst, mit einem behinderten Fötus schwanger zu sein und entschieden sich präventiv schon in einem frühen Stadium zu einem Abbruch. Meist mit Tabletten, die man sich auch in Polen in einer Online-Apotheke besorgen kann. Es ist nicht legal, wird aber auch nicht bestraft.

Wer später in der Schwangerschaft abtreiben will, weil man herausfindet, dass ein Kind nicht überlebensfähig sein wird, muss ins Ausland – nach Tschechien oder Deutschland – reisen. Auch hier ist laut den Hilfsorganisationen eine deutliche Zunahme zu beobachten.

Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.

Echo der Zeit, 08.03.2021, 18:00 Uhr ; 

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