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Präsidentschaftswahl Italien bangt um die Stabilität

Ein erstes Opfer hat die Wahl schon – bevor sie überhaupt begonnen hat: Silvio Berlusconi. Der 85-Jährige musste sich eingestehen, dass er doch nicht das Zeug zum Staatspräsidenten hat. Mit seiner Selbstkandidatur hatte er im Vorfeld der italienischen Präsidentschaftswahl für einigen Wirbel gesorgt.

Geliebt von den einen, verabscheut von den anderen hat der skandalumwitterte Ausnahmepolitiker in letzter Minute einen Rückzieher gemacht: Zu sehr polarisiert sein Name auch nach fast 30 Jahren das Land – und sorgt sogar in seinem politischen Mitte-Rechts-Bündnis für Misstrauen und Zwietracht. 

Ein Jahr aussergewöhnlicher Stabilität

Eine einende Wahl für das neue Staatsoberhaupt aber braucht die Nation – gerade jetzt nach diesem Jahr aussergewöhnlicher Stabilität. Diese zeichnet der Gegenspieler in diesem Vor-Wahlkampf: Mario Draghi. Der ehemalige oberste Europäische Zentralbanker und seit Februar 2021 Ministerpräsident verordnete den von der Pandemie anfangs so leidgeprüften Italienerinnen und Italienern strenge Regeln mit wenig Interpretationsspielraum. Gleichzeitig zeigte er ihnen aber eine Perspektive auf: 200 Milliarden Euro als Hilfe aus Europa für die Modernisierung des Landes und einen Neuanfang nach Covid. 

Doch was, wenn Mario Draghi nun zum Staatspräsidenten gewählt wird? Wer übernimmt dann seine Regierungsgeschäfte? Diese Frage treibt die 1009 Parlamentarierinnen und Parlamentarier und die Vertreter aus den Regionen um. Sie alle müssen in den kommenden Wahlgängen ab Montag entscheiden, wer künftig das erste Amt im Staat bekleiden soll.

Ihre Wahl kann gleichzeitig aber auch den Ausschlag geben, ob danach weitere politische Verwerfungen anstehen, die bisherige grosse Regierungskoalition von links bis rechts auseinanderfällt, womöglich vorgezogene Parlamentswahlen anstehen. 

Wer soll die verschiedenen politischen Lager einen?

Denn wer, wenn nicht Mario Draghi, kann am Kabinettstisch die unterschiedlichen politischen Seelen einen? Wer, wenn nicht Mario Draghi, kann Italiens Modernisierungsprogramm glaubhaft in Europa vertreten? Die Kommentare in Italien sind voll mit Schreckensszenarien. 

Eine Hoffnung bleibt: Mit der Reform des Parlaments aus dem Jahre 2020 fallen bei der nächsten Wahl von den 945 Sitzen in Senat und Abgeordnetenhaus 345 Sitze weg – also mehr als ein Drittel. Zudem werden viele der bisher Gewählten, ob von den Cinquestelle, von Forza Italia oder Abtrünnige des Partito Democratico, nach den letzten Umfragen keine Aussicht mehr auf Wiederwahl haben.  

Es sind also Hunderte von Wahlmännern und -frauen dieser Präsidentschaftswahl, die von einem Selbsterhaltungstrieb angeleitet werden: die Legislatur bis zum Ende 2023 durchzustehen und sich dann in die grosszügige Pensionskasse des Parlaments einzutragen.

Dafür muss aber zumindest noch ein Jahr in Italien weiterregiert werden. Grund genug, dass jetzt sehr viele in Rom nach dem Rückzieher von Silvio Berlusconi nach einer Lösung suchen, die weiterhin für stabile politische Verhältnisse in Italien sorgt – wie auch immer. 

Philipp Zahn

Auslandredaktor

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Philipp Zahn ist Teil der TV-Auslandredaktion von SRF. Davor berichtete er als Korrespondent aus Italien, Griechenland und der Türkei. Zahn studierte Geschichte, Volkswirtschaft und Philosophie in Berlin und Siena.

SRF 4 News, 23.01.2022, 22 Uhr

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