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Präsidentschaftswahlen Libyen Wiedersehen in Tripolis

Nach den Präsidentschaftswahlen soll in Libyen die Schweizer Botschaft wiedereröffnet werden. Sie blickt auf eine dramatische Geschichte zurück.

Am kommenden Freitag sollen die ersten Präsidentschaftswahlen in der Geschichte Libyens durchgeführt werden. Doch niemand glaubt daran. Zu chaotisch ist die Lage nach zehn Jahren Wirren und Krieg. Bloss – auch niemand mag den Aufschub der Wahlen verkünden.

Verworren ist auch die Geschichte der Schweizer Botschaft in Libyens Hauptstadt Tripolis. Im Februar 2010 wird sie von Polizisten umstellt und beinahe gestürmt. Ein einzigartiges Drama, nicht nur in der Schweizer Geschichte.

Dabei gilt die Schweiz unter Muammar al-Gaddafis Herrschaft (1969 bis 2011) lange als Traumdestination. Bereits 1963 hat sie in Tripolis ein Konsulat eröffnet, 1968 eine Botschaft. Das Personal stellt ein Visum nach dem andern aus. Wer es sich leisten kann, macht Ferien in der Schweiz oder lässt sich in Schweizer Spitälern behandeln.

Im Juli 2008 reist Gaddafis Sohn Hannibal mit seiner Frau Aline in die Schweiz. Aline will in Genf ihr zweites Kind zur Welt bringen. Mit der Reise nimmt das Drama seinen Lauf. Hannibal wird verhaftet. Das Paar soll Hausangestellte misshandelt haben. Aus Rache nimmt Muammar al-Gaddafi drei Schweizer als Geiseln. Darunter den Geschäftsmann Max Göldi.

Es beginnt eine der grössten Krisen in der Geschichte der Schweizer Aussenpolitik. Mittendrin: die Schweizer Botschaft in Tripolis. Denn zwischen drei Gefängnisaufenthalten dient sie während 17 Monaten als Göldis Zufluchtsort.

Seit 1993 ist die Botschaft im wohlhabenden Stadtteil Bin Ashur untergebracht. Inmitten von Moscheen, Spitälern und anderen Botschaften liegt Göldis goldener Käfig. Gaddafis Geheimagenten liegen auf der Lauer. Sie hören die Botschaftstelefone ab, haben möglicherweise auch die Räume verwanzt. Für vertrauliche Gespräche dient die Dachterrasse.

«Vom Dach aus habe ich die Geheimagenten beobachten können», erzählt Göldi, der heute in Tokio lebt: «Welche Autos sie fahren, wo sie sitzen, wie sie aussehen.» Im Auftrag des Schweizer Verteidigungsattachés führt Göldi Protokoll, denn der Geheimdienst plant seine Flucht. Doch die Pläne scheitern.

Max Göldi: Von der Geisel zum Chef

Nicht nur auf Max Göldi steigt der Druck. Auch das Schweizer Botschaftspersonal wird bedrängt. Einige kämpfen mit psychischen Problemen. Nach und nach werden Diplomatinnen und Diplomaten abgezogen.

Plötzlich ist Göldi der einzige Schweizer auf der Botschaft und wird vom Aussenministerium in Bern vorübergehend zum zweiten Botschaftssekretär ernannt. Für das libysche Personal ist er jetzt nicht mehr Gast und Geisel – sondern der Chef. Er trägt Verantwortung für Visaanträge, den Tresor, die Schlüssel.

Im Februar 2010 umzingeln Polizisten die Botschaft, Gaddafi droht mit der Erstürmung. Göldi stellt sich den Sicherheitskräften, kommt ein drittes Mal ins Gefängnis. Vier Monate später das Happy End: Mit einer Mischung aus diplomatischem Druck und Zugeständnissen gelingt es der Schweiz, Göldi freizubekommen.

Polizisten in Kampfmontur stehen vor der Schweizer Botschaft in Tripolis.
Legende: Libysche Polizisten in Kampfmontur stehen vor der Schweizer Botschaft in Tripolis. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 2010. Keystone

Ein Jahr später stürzt Gaddafi, Libyen schlittert in den Bürgerkrieg. Im Juli 2014 wird die Schweizer Botschaft evakuiert, das Schweizer Personal ausgeflogen. Heute steht die Botschaft leer. Von aussen überwuchert, innen verstaubt, überall liegen Geräte und Koffer herum.

Nun soll sie wiedereröffnet werden – irgendwann. «Wir sind willens, unsere diplomatischen Beziehungen wieder vor Ort auszuüben», sagt Aussenminister Ignazio Cassis, «aber es muss Frieden und Stabilität herrschen.» Die Stabilität lässt in Libyen freilich auf sich warten. Und so wartet auch auf die Schweizer Botschaft ein weiteres Kapitel ihrer bis anhin so dramatischen Geschichte.

10vor10, 21.12.2021, 21:50 Uhr

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