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Beginn des Präsidialsystems in der Türkei
Aus Echo der Zeit vom 09.07.2018. Bild: Keystone
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Präsidialsystem in der Türkei Erdogan, der Superpräsident

Der türkische Präsident hat mehr Macht als je zuvor. Von Diktatur spricht die Opposition. Zu Recht?

Recep Tayyip Erdogan ist in Ankara erneut als Präsident vereidigt worden. Diesmal als eine Art Superpräsident: Das neue Präsidialsystem verleiht Erdogan eine nie dagewesene Machtfülle. «Sultan Erdogan» höhnen Kritiker im Westen; die Opposition in der Heimat spricht unverhohlen von einer Diktatur.

Bei der pompösen Vereidigung in Ankara gab sich Erdogan als aufrechter Demokrat. Er schwöre, dem Rechtsstaat gegenüber loyal zu bleiben, die demokratische und säkulare Republik zu schützen und sein Amt unparteiisch auszuüben.

Demonstrant in Ankara
Legende: Verfassungsexperten der «Venedig-Kommission» im Europarat warnen vor einem «gefährlichen Rückschritt in der verfassungsmässigen demokratischen Tradition der Türkei». Reuters/Archiv

Er werde, so Erdogan weiter, nicht abweichen von dem «Ideal, wonach jedermann im Land grundlegende Freiheiten und Menschenrechte» geniesse. Thomas Seibert, Journalist in Istanbul, meldet Zweifel an.

Thomas Seibert

Thomas Seibert

Journalist in der Türkei

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Thomas Seibert , Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnenist seit 1997 Korrespondent für den deutschen «Tagesspiegel» in Istanbul und berichtet auch für andere Medien, unter anderem für Radio SRF.

Seibert beobachtet die Entwicklungen am Bosporus seit Jahren. Für ihn ist klar: Von Demokratie kann mit dem neuen Präsidialsystem keine Rede mehr sein. Denn: «Erstens: Das Parlament wird entmachtet. Zweitens: Die Regierung wird völlig umgebaut, es gibt ab sofort keinen Ministerpräsidenten mehr. Drittens: Alle Macht fliesst Erdogan zu.»

Was tun, wenn Erdogan über die Stränge schlägt?

Allerdings kennen auch Länder wie Frankreich und die USA ein Präsidialsystem, das dem Amtsträger grosse Befugnisse zugesteht – unter Wahrung der Gewaltenteilung. In der Türkei gebe es dagegen kaum noch Kontrollinstrumente, die über die Macht des Präsidenten wachen, gibt Seibert zu bedenken.

Erdogan betrachtet den ständigen Widerstand durch das Parlament als lästig.
Autor: Thomas SeibertJournalist in Istanbul

In den USA etwa habe der Kongress grosse Macht bei der Aufstellung des Staatshaushaltes und bestimme mit bei der Ernennung von Ministern. Erdogan dagegen «könne anheuern und feuern», wie es ihm beliebe. Und: Auch in Frankreich wird eine präsidiale Allmacht zurückgebunden – nicht zuletzt durch eine Regierung, die nicht der gleichen Partei wie der Präsident angehören muss: «Ein Gerangel zwischen Regierung und Präsident ist in Frankreich möglich.»

In der Türkei liegt der Fall anders: «Die Regierung ist in dem Sinne abgeschafft, dass sie nicht mehr dem Parlament verantwortlich ist, sondern allein dem Präsidenten», sagt Seibert.

Ein Steuermann in Krisenzeiten

Nach Erdogans Aussage sind die Verfassungsänderungen nötig, um die Wirtschaft anzuschieben und die Sicherheit des Landes zu gewährleisten. Mit dem neuen Präsidialsystem werde es schnellere und stärkere Ergebnisse geben. Den hohen Zinsen und der Inflation im Land sagte er den Kampf an.

Der neue Präsident will also anpacken, und wie Seibert glaubt, ist er den langwierigen demokratischen Prozessen überdrüssig geworden: «Erdogan betrachtet den ständigen Widerstand durch das Parlament als lästig».

Erdogan
Legende: Theoretisch könnte der heute 64-Jährige bis 2033 im Amt bleiben. Erdogan dürfte also noch ausgiebig Zeit haben, um einen Nachfolger aufzubauen. Derzeit ist keiner in Sicht, sagt Seibert. Keystone

Auf den Geschmack gebracht habe Erdogan der Ausnahmezustand, der seit dem gescheiterten Militärputsch vor zwei Jahren mehrfach verlängert wurde. Schon der Ausnahmezustand, der zunehmend zum Normalzustand wurde, stattete Erdogan mit gewaltiger Machtfülle aus.

Eine Institution, die die Macht des Präsidenten begrenzen könnte, wäre die Justiz. Für Erdogan ist die Gewaltenteilung auch weiter intakt. «Auf dem Papier mag das stimmen, in der Praxis aber nicht», entgegnet Seibert. Denn der gesamte Justizapparat sei abhängig vom Präsidenten. Schliesslich kann Erdogan auch Richter ernennen. «Es ist kaum zu erwarten, dass die Justiz Erdogan in irgendeiner Form in die Parade fahren wird», sagt der Türkei-Kenner.

Eine Dynastie Erdogan?

Jahrelang hat Erdogan auf sein neues Präsidialsystem hingearbeitet, es ist auf ihn zugeschnitten. Was aber, wenn Erdogan dereinst abtritt? Angesichts der Allmacht des Präsidenten dürfte sich so schnell niemand aufdrängen, der in Erdogans grosse Fussstapfen treten könnte: «Es gibt in der Türkei derzeit keinen anderen Politiker, der dieses Amt ausfüllen könnte», sagt Seibert.

Bereits gebe es in der Türkei Gerüchte, berichtet Seibert, wonach Erdogan an einer Nachfolgeregelung arbeite – aus dem Kreise der eigenen Familie. Ein Kandidat: Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak, der möglicherweise auch der neuen Regierung angehören wird.

«Es gibt also Ansätze zu einer Dynastie, was natürlich noch umstrittener sein würde als die jetzige Konstruktion», prognostiziert Seibert. Schon heute wird Erdogan vorgeworfen, die säkularen Strukturen zu zerstören, die Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, einst aufbaute. Für Kritiker würde eine «Dynastie Erdogan» wohl der Wiedererrichtung des Sultanats gleichkommen.

Video
Das türkische Präsidialsystem kurz erklärt
Aus Tagesschau vom 24.06.2018.
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Erdogans Präsidialsystem: Die wichtigsten Änderungen

Der Präsident darf einer Partei angehören: Erdogan trat im Mai 2017 erneut der von ihm mitgegründeten AKP bei. Im selben Monat liess er sich wieder zum Parteivorsitzenden wählen.

Der Präsident hat mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann er 4 der 13 Mitglieder bestimmen, das Parlament 7 weitere. Feste Mitglieder bleiben der Justizminister und sein Staatssekretär, die der Präsident ebenfalls auswählt. Das Gremium ist unter anderem für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten zuständig. Der Rat wurde bereits im Mai 2017 neu besetzt. Im alten System hatten die Juristen selbst die Mehrheit des zuvor 22-köpfigen Gremiums bestimmt.
Der Präsident ist nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef: Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Er wird nicht mehr vom Parlamentspräsidenten, sondern von Vizepräsidenten vertreten. Der Präsident ist für die Ernennung und Absetzung einer von ihm selbst bestimmten Anzahl Vizepräsidenten und Minister sowie aller hochrangigen Staatsbeamten zuständig. Das Parlament hat kein Mitspracherecht. Mitglieder des Kabinetts dürfen nicht Abgeordnete sein. Wer für die Präsidentschaft kandidiert, darf sich nicht zugleich um ein Abgeordnetenmandat bewerben.
Der Präsident kann in Bereichen, die die Exekutive betreffen, Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen: Eine Zustimmung durch das Parlament ist nicht nötig. Dekrete werden unwirksam, falls das Parlament zum jeweiligen Bereich ein Gesetz verabschiedet. Präsidiale Dekrete dürfen Verfassungsrechte nicht einschränken und gesetzlich bereits bestimmte Regelungen nicht betreffen. Gesetze darf – bis auf den Haushaltsentwurf – nur noch das Parlament einbringen.
Neuwahlen können sowohl das Parlament als auch der Präsident auslösen: Im Parlament ist dafür eine Dreifünftelmehrheit notwendig. In beiden Fällen werden sowohl das Parlament als auch der Präsident zum gleichen Zeitpunkt neu gewählt – unabhängig davon, welche der beiden Seiten die Neuwahl veranlasst hat.
Die Amtszeiten des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt: Die Regierungspartei AKP hat aber eine Hintertür eingebaut. Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten eine Neuwahl beschliessen, kann der Präsident noch einmal kandidieren.
Die Zählung der Amtszeiten beginnt unter dem neuen Präsidialsystem neu: Erdogan ist also nun in seiner ersten Amtsperiode. Mit der Hintertür (und bei entsprechenden Wahlerfolgen) könnte er theoretisch bis 2033 an der Macht bleiben.
Gegen den Präsidenten kann nicht nur wie bislang wegen Hochverrats, sondern wegen aller Straftaten ermittelt werden: Allerdings ist eine Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten im Parlament notwendig, um eine entsprechende Untersuchung an die Justiz zu überweisen.

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