Recep Tayyip Erdogan ist in Ankara erneut als Präsident vereidigt worden. Diesmal als eine Art Superpräsident: Das neue Präsidialsystem verleiht Erdogan eine nie dagewesene Machtfülle. «Sultan Erdogan» höhnen Kritiker im Westen; die Opposition in der Heimat spricht unverhohlen von einer Diktatur.
Bei der pompösen Vereidigung in Ankara gab sich Erdogan als aufrechter Demokrat. Er schwöre, dem Rechtsstaat gegenüber loyal zu bleiben, die demokratische und säkulare Republik zu schützen und sein Amt unparteiisch auszuüben.
Er werde, so Erdogan weiter, nicht abweichen von dem «Ideal, wonach jedermann im Land grundlegende Freiheiten und Menschenrechte» geniesse. Thomas Seibert, Journalist in Istanbul, meldet Zweifel an.
Seibert beobachtet die Entwicklungen am Bosporus seit Jahren. Für ihn ist klar: Von Demokratie kann mit dem neuen Präsidialsystem keine Rede mehr sein. Denn: «Erstens: Das Parlament wird entmachtet. Zweitens: Die Regierung wird völlig umgebaut, es gibt ab sofort keinen Ministerpräsidenten mehr. Drittens: Alle Macht fliesst Erdogan zu.»
Was tun, wenn Erdogan über die Stränge schlägt?
Allerdings kennen auch Länder wie Frankreich und die USA ein Präsidialsystem, das dem Amtsträger grosse Befugnisse zugesteht – unter Wahrung der Gewaltenteilung. In der Türkei gebe es dagegen kaum noch Kontrollinstrumente, die über die Macht des Präsidenten wachen, gibt Seibert zu bedenken.
Erdogan betrachtet den ständigen Widerstand durch das Parlament als lästig.
In den USA etwa habe der Kongress grosse Macht bei der Aufstellung des Staatshaushaltes und bestimme mit bei der Ernennung von Ministern. Erdogan dagegen «könne anheuern und feuern», wie es ihm beliebe. Und: Auch in Frankreich wird eine präsidiale Allmacht zurückgebunden – nicht zuletzt durch eine Regierung, die nicht der gleichen Partei wie der Präsident angehören muss: «Ein Gerangel zwischen Regierung und Präsident ist in Frankreich möglich.»
In der Türkei liegt der Fall anders: «Die Regierung ist in dem Sinne abgeschafft, dass sie nicht mehr dem Parlament verantwortlich ist, sondern allein dem Präsidenten», sagt Seibert.
Ein Steuermann in Krisenzeiten
Nach Erdogans Aussage sind die Verfassungsänderungen nötig, um die Wirtschaft anzuschieben und die Sicherheit des Landes zu gewährleisten. Mit dem neuen Präsidialsystem werde es schnellere und stärkere Ergebnisse geben. Den hohen Zinsen und der Inflation im Land sagte er den Kampf an.
Der neue Präsident will also anpacken, und wie Seibert glaubt, ist er den langwierigen demokratischen Prozessen überdrüssig geworden: «Erdogan betrachtet den ständigen Widerstand durch das Parlament als lästig».
Auf den Geschmack gebracht habe Erdogan der Ausnahmezustand, der seit dem gescheiterten Militärputsch vor zwei Jahren mehrfach verlängert wurde. Schon der Ausnahmezustand, der zunehmend zum Normalzustand wurde, stattete Erdogan mit gewaltiger Machtfülle aus.
Eine Institution, die die Macht des Präsidenten begrenzen könnte, wäre die Justiz. Für Erdogan ist die Gewaltenteilung auch weiter intakt. «Auf dem Papier mag das stimmen, in der Praxis aber nicht», entgegnet Seibert. Denn der gesamte Justizapparat sei abhängig vom Präsidenten. Schliesslich kann Erdogan auch Richter ernennen. «Es ist kaum zu erwarten, dass die Justiz Erdogan in irgendeiner Form in die Parade fahren wird», sagt der Türkei-Kenner.
Eine Dynastie Erdogan?
Jahrelang hat Erdogan auf sein neues Präsidialsystem hingearbeitet, es ist auf ihn zugeschnitten. Was aber, wenn Erdogan dereinst abtritt? Angesichts der Allmacht des Präsidenten dürfte sich so schnell niemand aufdrängen, der in Erdogans grosse Fussstapfen treten könnte: «Es gibt in der Türkei derzeit keinen anderen Politiker, der dieses Amt ausfüllen könnte», sagt Seibert.
Bereits gebe es in der Türkei Gerüchte, berichtet Seibert, wonach Erdogan an einer Nachfolgeregelung arbeite – aus dem Kreise der eigenen Familie. Ein Kandidat: Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak, der möglicherweise auch der neuen Regierung angehören wird.
«Es gibt also Ansätze zu einer Dynastie, was natürlich noch umstrittener sein würde als die jetzige Konstruktion», prognostiziert Seibert. Schon heute wird Erdogan vorgeworfen, die säkularen Strukturen zu zerstören, die Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, einst aufbaute. Für Kritiker würde eine «Dynastie Erdogan» wohl der Wiedererrichtung des Sultanats gleichkommen.