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Premierministerin in Tunesien Wie viel Macht Najla Bouden erhält, wird sich erst noch zeigen

Najla Bouden ist die erste Frau im Amt einer Regierungschefin in Tunesien – und der ganzen Region Nordafrika und Mittlerer Osten. Ihre Wahl könnte ein Zeichen des Aufbruchs sein – wenn sie nicht unter sehr speziellen Umständen zustande gekommen wäre, wie Tunesien-Kennerin Miriam Salehi weiss.

Miriam Salehi

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Die Politologin Mariam Salehi hat zur politischen Transformation in Tunesien promoviert. Derzeit ist sie Nachwuchs-Gruppenleiterin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin.

SRF News: Inwiefern steht die neue tunesische Premierministerin Najla Bouden für ein «modernes Tunesien»?

Miriam Salehi: Ihre Wahl ist nicht wirklich aussagekräftig für den Zustand ganz Tunesiens. Die Wahl kommt in einem Moment, da Staatspräsident Kais Saied versucht, das demokratische System zu unterminieren. Mit der Wahl einer Frau versucht er zu verschleiern, dass es eher wieder in eine autoritäre Richtung geht.

Kritik am tunesischen Präsidenten kommt aus dem In- und Ausland. Kann die Wahl Boudens die Kritiker beruhigen?

Prinzipiell positiv ist, dass es überhaupt wieder eine Regierung gibt. Es stellt sich aber die Frage, wie viel Macht Sajed wieder an die Regierung abgeben wird. Er regiert derzeit bekanntlich per Dekret.

Der Präsident regiert per Dekret

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Tunesiens Präsident Kais Saied hatte am 25. Juli nach einem monatelangen Machtkampf Regierungschef Hichem Mechichi abgesetzt und die Arbeit des Parlaments ausgesetzt. Er regiert seither per Dekret. Sein Vorgehen rechtfertigte er mit der Notwendigkeit, den politischen und wirtschaftlichen Stillstand in Tunesien zu überwinden und die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen. Seine Gegner werfen ihm einen Putsch vor und fürchten um die demokratischen Errungenschaften, die sie mit der Revolution von 2011 erlangten. Jetzt setzte er zwar eine neue Regierung ein – erstmals mit einer Frau an der Spitze –, kündigte aber zugleich an, dass die «aussergewöhnlichen Massnahmen zum Regieren» so lange in Kraft bleiben, wie eine «imminente Gefahr» bestehe. Auch das Parlament bleibt weiterhin aussen vor. (reuters)

Wie hat das tunesische Volk auf die Nominierung Boudens reagiert?

Die Entwicklung wird eher zögerlich beobachtet, wenn auch die Berufung einer Frau Aufsehen erregt hat. Die Situation ist aber speziell: Saied hat Teile der Verfassung ausser Kraft gesetzt, und es ist unklar, mit wie viel Macht Bouden wird regieren können. Deshalb wird das Ganze eher skeptisch betrachtet.

Eine Frau an der Spitze der Regierung – das ist für die ganze Region eine Premiere. Weshalb sind die Frauen in Nordafrika und im Mittleren Osten in der Politik sichtbar unterrepräsentiert?

Dafür sind historische Strukturen verantwortlich – ähnlich wie in anderen Ländern. So spielten etwa auch in Europa die Frauen in der Politik über Generationen keine Rolle. Am Beispiel Tunesien sieht man aber, dass durch eine Frauenquote bei der Parlamentswahl die Frauen in der Politik zunehmend eine grössere Rolle spielen.

Dank der Quote spielen Frauen in der Politik eine immer grössere Rolle.
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Bislang wurde dabei kritisiert, dass es Frauen trotzdem nie für die höchsten politischen Posten reicht und die Männer weiterhin Vorrang haben. Allerdings wird man im Fall Bouden erst noch sehen müssen, wie viel Macht ihr Präsident Saied zugestehen wird.

Frauen verändern die Politik

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Im tunesischen Parlament sitzen zwar noch nicht gleich viele Frauen wie Männer, doch ihre Anzahl ist stark gestiegen. Die Parlamentarierinnen würden versuchen, sich untereinander parteiübergreifend zu vernetzen, wenn es um frauenspezifische Anliegen in der Politik geht, sagt Miriam Salehi. So versuchten sie immer wieder, Gesetze, die Fraueninteressen zuwiderlaufen, zu verhindern. «In der Verfassung sollte zunächst ein Artikel die Frauen als komplementär zu den Männern bezeichnen – doch schliesslich spricht er nun von gleichen Chancen für Mann und Frau und formuliert das Ziel einer Parität der Geschlechter», nennt sie als Beispiel. Zwar sei auch den Frauen in manchen Fällen die Parteizugehörigkeit wichtiger. Doch: «Wenn die Frauen in der Politik besser vertreten sind, werden auch ihre Interessen im Parlament und in der Gesetzgebung besser berücksichtigt», betont Salehi.

Welche Auswirkungen könnte die Wahl Najla Boudens zur Premierministerin auf die Rolle der Frauen in der Politik arabischer Staaten haben?

Durch ihre Wahl könnte es ganz einfach selbstverständlicher werden, dass Frauen hohe Regierungsämter besetzen. Wenn das normaler und alltäglicher wird, hätte das auch weitere Auswirkungen auf die Politik und Gesellschaft.

Das Gespräch führte Lillybelle Eisele.

SRF 4 News, 19.10.2021, 07:50 Uhr ; 

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