Am vergangenen Dienstag hat das ungarische Parlament den Austritt aus dem Internationalen Strafgerichtshof gebilligt. Darauf haben EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier reagiert. Ist es möglich, Ungarn die Gelder der EU zu entziehen, weil es sich nicht an die Regeln hält? Der emeritierte Professor für Europastudien, Gilbert Casasus, ordnet dies ein.
SRF News: Wie realistisch ist die Forderung, dass alle EU-Haushaltsmittel für Ungarn eingefroren werden?
Gilbert Casasus: Ich bin kein Jurist, ich bin Politologe. Aus politikwissenschaftlicher Sicht bin ich eher skeptisch. Man hat schon mehrere Versuche unternommen, damit Ungarn bestraft wird, aber die Auswirkungen sind gering. Das Problem liegt im Vertrag von Lissabon, der 2009 verabschiedet worden ist. Dieser Vertrag hat mehrere Schwachstellen. Ein Land kann austreten, aber man kann kein Land ausschliessen. Das heisst, wenn ein Land irgendwie die Grundregeln der EU nicht respektiert, gibt es keine Rechtsmittel. Es gibt zwar Artikel 7, aber dieser Artikel ist sehr kompliziert.
Wieso kommen die EU-Verfahren nach Artikel 7 gegen Polen und Ungarn zu keinem Schluss?
Man stösst hier an die Grenzen des Verfahrens. Man hat juristische Mittel, gegen diese Staaten vorzugehen, aber man hat keine politische Willenskraft, gegen sie zu agieren.
Wenn man den Vertrag ändern würde, in welche Richtung würden Sie ihn ändern wollen?
Europa muss bewusst werden, dass es der EU nicht gut geht. 1994 haben die damaligen deutschen Politiker Karl Lamers und Wolfgang Schäuble die Gründung eines Kerneuropas vorgeschlagen. Das ist keine schlechte Idee. Europa ist konfrontiert mit Russland, mit China und neuerdings auch mit den USA. Der Vertrag von Lissabon ist nicht mehr zeitkonform. Er entspricht nicht mehr den aktuellen politischen und internationalen Herausforderungen. Deswegen muss auf höchster Ebene versucht werden, diesen Vertrag zu ändern.
Wen möchten Sie in diesem Kerneuropa sehen?
Sicherlich die sechs Gründerstaaten (Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg; Anm. der Redaktion) und Spanien. Man sollte vielleicht auch Polen integrieren.
Ich sehe, dass sich in Mittel- und Osteuropa immer mehr demokratische Probleme stellen.
Das heisst, eigentlich möchten Sie die Osteuropäer nicht mehr drin haben?
Nein, das habe ich nicht gesagt. Aber ich verschliesse die Augen nicht und sehe, dass sich in Mittel- und Osteuropa immer mehr demokratische Probleme stellen. Europa ist ein Teil der Lösung, damit sich das demokratische Denken in diesen Ländern verfestigt. Doch die antieuropäischen und prorussischen Kräfte sind in den mittel- und osteuropäischen Staaten so gross, dass wir Massnahmen treffen sollten. Heute können wir keine Massnahmen treffen – aufgrund des Vertrages. Was gerade in Rumänien passiert ist, ist ein Warnzeichen. Wir haben mehrere Warnzeichen in der Slowakei, vielleicht leider in Polen, vielleicht auch in der Tschechischen Republik.
Eine neue europäische Aufklärung kann nur entstehen, wenn nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische, demokratische Aspekte im Vordergrund stehen.
Ist das Problem, dass eigentlich nur die Wirtschaft Europa zusammenhält und keine gemeinsame politische Idee?
Dem kann ich nur zustimmen. Es war so, dass vor 75 Jahren die europäische Integration vor allem ein Wirtschaftsmodell war. Wir brauchen ein neues Bewusstsein, eine neue europäische Aufklärung. Und diese kann nur entstehen, wenn nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische, demokratische Aspekte im Vordergrund stehen.
Das Gespräch führte Ivana Pribakowitsch.