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Ungarns Oppositionsführer Politneuling Péter Magyar entzaubert Orbán

Langzeit-Premier Viktor Orbán war jahrelang der unangefochtene Anführer Ungarns. Nun hat er ernstzunehmende Konkurrenz erhalten. Was steckt dahinter?

Er war selbst Teil der Elite um Premier Viktor Orbán, bis er mit ihr brach und begann, Korruption und Misswirtschaft anzuprangern. Das war im Februar letzten Jahres, und seither geht es mit dem 44-jährigen Oppositionspolitiker Péter Magyar politisch steil aufwärts.

Seine Partei Tisza hat in Umfragen inzwischen die Regierungspartei Fidesz überholt – und das in einem nie dagewesenen Tempo, wie der ungarische Politologe Gábor Györi sagt: «Noch nie hat eine Partei in den Meinungsumfragen derart schnell abgehoben wie die von Péter Magyar.»

Mann in Anzug hält Rede hinter einem Mikrofon.
Legende: Der neue Herausforderer von Orbán: Péter Magyar hält eine Rede während der Feierlichkeiten zum 68. Jahrestag des ungarischen Aufstands von 1956 in Budapest. (23. Oktober 2024) REUTERS/Bernadett Szabo

Zwar ist rund die Hälfte der Ungarinnen und Ungarn schon länger nicht zufrieden mit der Regierung, aber die Opposition war schwach und zersplittert. Péter Magyar scheint es zu schaffen, neben den Orbàn-Gegnern auch Unentschlossene und manche Fidesz-Wählerinnen und Wähler für sich zu gewinnen. Die Enttäuschung sei bei vielen so gross, sagt Györi, dass sie bereit seien, diejenige Kraft zu unterstützen, die eine Chance gegen Orbán habe.

Der Mythos Orbán ist verblasst

Magyar sei geschickt im Umgang mit Medien, habe Charisma und fokussiere auf Themen, die den Menschen Sorgen bereiteten, meint der Politologe: «Wenn Magyar in Krankhäuser geht und sagt, schaut mal, wie schrecklich der Zustand ist, wie schlimm die Probleme mit Hygiene und Versorgung sind – dann hören mehr Leute zu und berichten mehr Medien darüber, als es bisher der Fall war.»

Personen packen Kisten auf der Strasse aus.
Legende: Als ein Kinderspital in Kiew im vergangenen Sommer durch russische Raketeneinschläge beschädigt wurde, sammelte Magyar mit seiner Partei Spenden für Hilfsgüter und ging selbst vor Ort, um sie zu verteilen. (9. Juli 2024) REUTERS/Marton Monus

Dazu kommt: Im Moment fehlt das grosse Feindbild, mit dem Premier Orbán die Leute hinter sich scharen kann: Die Migranten, der Krieg in der Ukraine – diese Drohkulissen haben sich abgenutzt. Ausserdem scheint die Negativkampagne der Medien, die von Orbán kontrolliert werden, ihm nicht ernsthaft zu schaden. Sie führt vielmehr dazu, dass der Oppositionspolitiker landesweit bekannt wird.

Peter Magya – sein Werdegang und sein Versprechen

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Mann vor unscharfem Gebäude.
Legende: REUTERS/Bernadett Szabo

Der 44-jährige Rechtsanwalt und Politiker Péter Magyar stammt aus einem konservativen Milieu und hat katholische Schulen besucht, war Mitglied der Regierungspartei Fidesz und hatte hohe Posten in der Verwaltung inne. Er war bis 2023 mit der ehemaligen Justizministerin Judit Varga verheiratet. Diese musste sich im Februar 2024 wegen ihrer Mitwirkung bei der Begnadigung in einem Pädophilie-Fall aus der Politik zurückziehen.

Magyar brach mit ihr und mit der Regierungspartei und rief im Frühling 2024 zu grossen Demonstrationen gegen die Korruption der Orbán-Regierung auf, an denen über 100'000 Menschen teilnahmen. Er sagt, Orbán und dessen Clan hätten den Menschen Geld gestohlen, sich bereichert und Ungarn zu einem armen Land gemacht. Er verspricht, gegen Korruption vorzugehen, die Verantwortlichen ins Gefängnis zu bringen und die Unabhängigkeit der Justiz wieder herzustellen.

Seit Juli 2024 ist er Vorsitzender der Partei Tisza. Unter Magyars Führung errang die Partei bei der Europawahl rund 30 Prozent der Wählerstimmen und sieben Sitze. Magyar sitzt seither im Europäischen Parlament. Die Tisza-Partei liegt seit letztem Herbst in manchen Umfragen in Ungarn vor der Fidesz-Partei von Viktor Orbán.

Deshalb sagt Györi: Der Mythos Orbán sei verblasst. Der Mythos, der darin bestand, dass Orbán keinen ebenbürtigen Herausforderer in Ungarn habe und dass die Oppositionspolitiker unbedeutende Figuren im Vergleich zu Orbán seien, der der wirkliche und natürliche Anführer Ungarns sei. «Jetzt kann man selbst aus den Fidesz-Medien sehen, dass Orbán einen Herausforderer hat, der ähnlich einflussreich und ein wirklich ernstzunehmender Gegenspieler ist.»

Nur schlechte Politiker in Ungarn?

Die 59-jährige Zsuzsa, die wir auf einem zentralen Platz in Budapest ansprechen, ist wohl genau die Wählerin, von der der Politologe Györi spricht. Sie sei schon lange unzufrieden mit der Regierung, sagt sie. Zsuzsa spürt, wie alle, die schlechte Wirtschaftslage, die hohen Preise.

Für sie ist klar, was der Grund dafür ist: «Sie stehlen, sie sind korrupt.» Zsusza weiss, wovon sie spricht, denn sie arbeitet in der Verwaltung. Sie wird für Péter Magyar stimmen, befürchtet aber, dass er in einer künftigen Regierung zu wenig Unterstützung haben wird, um das Land ganz vom System Orbán zu befreien.

Menschenmenge macht ein Selfie bei Nachtveranstaltung.
Legende: Péter Magyar zeigt sich als nahbarer Politiker und gewinnt im ungarischen Volk immer mehr an Beliebtheit. (10. Juni 2024) REUTERS/Bernadett Szabo

Ein paar Schritte weiter raucht der 48-jährige Pal eine Zigarette und sagt, er sei deprimiert: Er glaube nicht, dass Magyar eine Alternative sei. In Ungarn gebe es nur schlechte Politiker. Das Problem, so Pal, sei die Mentalität: Alle wollten sehr schnell reich werden und dächten nur kurzfristig.

Der 61-jährige Gabor schliesslich sagt: Péter Magyar sei ihm unsympathisch, Orbán hingegen mache es gar nicht schlecht. Er schütze die Interessen Ungarns. Und die Geschichten mit der Korruption: Das würde eine andere Regierung wohl ebenso handhaben.

Péter Magyar als letzte Hoffnung

Ganz anderer Meinung ist Géza Jeszenszky. Der 83-jährige Historiker war Diplomat und Anfang der neunziger Jahre Aussenminister Ungarns. Doch ganz zur Ruhe setzen kann er sich nicht, zu sehr treibt ihn um, wie Orbán immer autoritärer regiert, um sich die Macht zu sichern und noch mehr Reichtum anhäufen zu können.

Jeszenszky sagt: Er sei von Magyar beeindruckt, auch wenn er gewisse Vorbehalte gegenüber seiner Person habe. «Viele Orbán-Gegner, unter ihnen sogar frühere Oppositionsführer, wollen für Magyar stimmen, um Ungarn von Orbán zu befreien.» Es gebe keine Alternative zu Péter Magyar. «Es ist die letzte Hoffnung, Orbán friedlich zu ersetzen.»

In rund einem Jahr sind Wahlen. Ihr Ausgang, so lässt sich heute sagen, ist zumindest ungewiss.

Echo der Zeit, 28.4.202, 18 Uhr/liea

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