Iren Meier ist SRF-Auslandredaktorin mit dem Spezialgebiet Türkei. Sie war von 2004 bis 2012 Nahost-Korrespondentin und lebte in Beirut. Von 1992 bis 2001 war sie als Osteuropa-Korrespondentin tätig – erst in Prag, dann in Belgrad.
Fast schon eine Woche dauern die Proteste im Iran an. Und noch immer gibt es mehr Fragen als Antworten. Und noch immer keine gesicherten Fakten. Was langsam aufscheint, gleicht einem Puzzle: viele unterschiedliche Teile, die mehr oder weniger zusammenpassen.
Einer, der das Bild sehr sorgfältig zusammensetzt, ist Ali Vaez, der Iran-Experte der «International Crisis Group». Er sagt, dies sei keine neue Revolution, sondern hier explodiere die ganze Frustration über die wirtschaftliche und politische Stagnation. Mit voller Wucht. Diese Frustration bricht in jeder Stadt und jedem Ort anders auf.
In Arak, einer Industriestadt, sagen Demonstranten, sie erhielten schon länger keine Löhne mehr. Andere sind arbeitslos und sehen keine Perspektive. In Kermanschah, im November von einem schweren Erdbeben heimgesucht, warten die Obdachlosen noch immer auf Hilfe vom Staat – und scheinen nicht mehr daran zu glauben. Ihr Zorn richtet sich gegen Präsident Hassan Rohani.
Die ganze wirtschaftliche Not, die soziale Ungerechtigkeit, die riesige Jugendarbeitslosigkeit, soll Rohani verschuldet haben. Ein Vorwurf, der sich relativiert, wenn man ihn in den Kontext stellt: Hassan Rohani hat von seinem Vorgänger Mahmoud Ahmadinejad eine ausgeplünderte, ruinierte Wirtschaft geerbt. Und die mächtigen Revolutionsgarden wehren sich mit aller Kraft gegen dringend nötige Reformen, die der Präsident in Angriff nehmen will. Ausserdem tut die amerikanische Regierung viel, um einen Wirtschafstaufschwung im Iran zu verhindern.
Aus Angst vor Strafen in den USA oder möglichen neuen Sanktionen, weigern sich die meisten Grossbanken, Geschäfte mit dem Iran zu finanzieren. Geschäfte, mit denen die iranische Regierung und die Bevölkerung nach dem Atomabkommen gerechnet hatte.
Trotzdem: Präsident Rohani hat zu viel versprochen und zu wenig gehalten oder halten können. Anders als erwartet, hat er nach seinem Wahlsieg im Mai keine Frauen als Ministerinnen in seine Regierung berufen. Nichts von politischer Öffnung oder gar dem Versuch, die beiden Oppositionsführer von 2009, Mehdi Karroubi und Mir Hossein Mussawi, aus dem Hausarrest zu befreien. Das Warten wird lang. Und die Jugend radikaler.
Heute scheinen Reformer, aber Männer des Systems, für viele Junge keine wirkliche Alternative mehr zu sein. Die Slogans, die direkt Revolutionsführer Ali Khamenei angreifen, richten sich gegen das System. Die Herrschaft der Mullahs. 2009 war mehr Zurückhaltung. Die monatelangen Proteste hatten Führerfiguren und klare Forderungen. Und sie begannen in der Hauptstadt Teheran. Getragen wurden sie von der Mittelschicht, den Studenten und Intellektuellen.
Nach einer Woche der Proteste sehen wir heute eine schwer einschätzbare Situation. Sollte das Regime den Protest mit Gewalt niederschlagen - ähnlich wie 2009 – würde das vermutlich zu neuen Sanktionen führen, das Ende des Atomabkommens wäre wohl nahe und der Iran erneut isoliert. Sollte das Regime die Kontrolle verlieren, würde der Iran ins Chaos stürzen.
Sicher ist, auch wenn der Protest abflaut oder beendet wird, Wut und Frustration bleiben und werden wieder explodieren. Präsident Rohani sagte heute, er hoffe, die Proteste würden in einigen Tagen enden. Hoffnung allein genügt nicht mehr.
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