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Proteste in Moskau Ein Spaziergang im Kastenwagen

Tausende haben gegen Willkür der Polizei und für die Aufarbeitung eines dubiosen Drogenfundes demonstriert. Die Reportage.

Die Polizei hat von Anfang an mit lautstarken Durchsagen klargemacht, dass sich die Menschen an einer nicht bewilligten Demonstration beteiligten: «Geschätzte Bürger, behindern Sie nicht Ihre Mitbürger – geben Sie die Wege für Fussgänger frei!», schallte es im Stadtzentrum von Moskau durch Megafone.

Eine Bewilligung erteilten die Moskauer Stadtbehörden für den heutigen Tag nicht. Jene, die heute in Moskau auf die Strasse gingen, ignorierten die Warnungen aus Prinzip, weil sie gegen Willkür und Korruption im russischen Justiz- und Polizeiapparat demonstrierten.

Kein Freund und Helfer

Wer sich heute unter den anwesenden Demonstranten umhörte, bekam von allen Seiten negative Erfahrungen mit der Polizei geschildert: «Bei einer Fahrzeugkontrolle wurden einer Freundin von mir und ihren Eltern Drogen durch die Polizei untergeschoben. Man stellte den Vater der Familie vor die Wahl: Entweder er würde 230 Franken bezahlen, oder man werde ihn festnehmen», erzählte Valeria Wornikowa, an deren Tasche ein Button mit der Aufschrift «Ich bin – wir sind Iwan Golunow» steckte.

Die Härte der russischen Drogengesetze sind für den russischen Durchschnittsbürger genug der Abschreckung. So griff auch der Vater von Valerias Bekannten lieber widerwillig in die Tasche, als sich auf ein Strafverfahren einzulassen, das statistisch gesehen kaum gewonnen werden kann.

Absehbare Festnahmen

Zum Marsch durch die Innenstadt ursprünglich riefen die Redaktion des Journalisten Iwan Golunow und befreundete Medienschaffende auf. Vergangene Woche war ein Strafverfahren gegen den bekannten Investigativ-Journalisten eingeleitet worden, weil die Polizei vorgab, Drogen bei ihm gefunden zu haben.

Nachdem Golunow gestern Abend überraschend freigelassen und das Verfahren gegen ihn mangels Beweisen eingestellt wurde, distanzierte sich das Organisationskomitee von der heutigen Demonstration.

Jeder nehme auf eigene Verantwortung teil, hiess es auch seitens der Redaktion von Golunow. Bereits mehrere Stunden vor Demonstrationsbeginn standen rund um den vereinbarten Treffpunkt und in den Seitenstrassen Kastenwagen. Ein klares Zeichen dafür, dass der heutige Tag in Festnahmen enden würde.

Flanierende gerieten in Demo

Die geplante Route der Demonstration sperrten Sondereinheiten der Polizei ab, und so versuchte die Masse über Umwege vor die Zentrale der Moskauer Polizei zu gelangen. Unterwegs über Boulevards mit Glacéständen und historischen Sommerausstellungen kam es zu absurden Szenen.

Manch ein flanierender Stadtbewohner geriet am heutigen Feiertag, dem «Tag Russlands», unbeabsichtigt mitten in eine der grössten Demonstrationen der vergangenen Jahre.

Erloschene Hoffnung

Aufgrund der russischen Gesetze war es den Demonstranten nicht möglich, mit Transparenten oder Parolen auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen. Ansonsten hätte die Polizei gleich zu Beginn alle Personen wegen Teilnahme an einer nicht bewilligten Demonstration festnehmen können.

So zogen die Menschen klatschend durch die Strassen. Doch allen kreativen Tricks zum Trotz, kam der Demonstrationszug wenige Meter vor der Zentrale der Moskauer Polizei zum Stehen.

SRF-Kameramann in Haft

Wer nach der gestrigen Freilassung von Iwan Golunow hoffte, es könnten neue Zeitenanbrechen, der wurde heute bitter enttäuscht. Insgesamt wurden mehr als 400 Menschen trotz eines völlig friedlichen Protests von der Polizei festgenommen. Unter den Festgenommenen befand sich während knapp einer halben Stunde auch der Kameramann von SRF.

Appell von Amnesty International

Box aufklappen Box zuklappen

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International erklärte, die willkürlichen und oft brutalen Verhaftungen seien «ein Beispiel für die grausame Unterdrückung, die die Demonstranten erst auf die Strasse brachte». Die Menschenrechtskommissarin des Europarats rief die russischen Behörden auf, die festgenommenen Demonstranten wieder freizulassen. Russland müsse sich beim Umgang mit Protesten an Menschenrechtsstandards halten.

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