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Proteste in Russland Starker Kreml, schwacher Kreml

Mit harter Repression hat der Staat versucht, die Opposition einzuschüchtern. Doch die Moskauer lassen das nicht zu.

Schwarze Helme und Uniformen, wo man hinschaut. Die russische Staatsmacht hat ganze Heerscharen ins Moskauer Zentrum aufgeboten, darunter die gefürchtete Sondereinheit OMON: Das sind die Typen, die erst dreinschlagen – und dann fragen.

Diesem Massenaufgebot war eine ganze Woche der Repression vorangegangen: Praktisch alle Anführer der demokratischen Opposition sitzen inzwischen in Haft, bei zahlreichen Aktivisten gab es Hausdurchsuchungen. Und vor allem: Die Behörden ermitteln wegen «Massenunruhen», ein Paragraph, der bis zu 15 Jahre Gefängnis vorsieht. Das Signal: Wer an eine Demo geht, kann für sehr lange Zeit hinter Gittern verschwinden.

Auch «Normalos» demonstrieren

Der Kreml hat also versucht, seine Bürger einzuschüchtern. Funktioniert hat es aber nicht an diesem Samstag. Tausende Moskauerinnen und Moskauer sind dem Aufruf der Opposition gefolgt und über den langgezogenen Boulevardring marschiert. Darunter viele Normalos, Leute, die am Montag mit der Metro wieder zur Arbeit fahren, Rentner, Studenten. In den Gesichtern viel Trotz und Selbstsicherheit, auch viel Stolz.

Ihre Forderung ist einfach: freie und faire Wahlen. Auch die Kandidaten der liberalen Opposition sollen zur Moskauer Lokalwahl vom September zugelassen werden. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit – für den Kreml aber Alarmstufe Rot.

Unheimlich mächtig, aber unsicher

Es gehört zu den Eigenheiten des politischen Systems in Russland, dass die oberste Führungsriege unglaublich mächtig – und gleichzeitig sehr unsicher ist. Der Kreml kontrolliert das Parlament, die Gerichte, die Sicherheitskräfte sowieso. Aber er kontrolliert eben nicht jeden einzelnen Bürger: Und die paar Tausend auf Moskaus Strassen werden von Putin und seiner Machtclique als Bedrohung gesehen. Denn durch die Korridore des Kremls schleicht die Angst vor Kontrollverlust. Nach dem Motto: Wenn heute 5000 Leute ungehindert in Moskau demonstrieren, sind es nächstes Wochenende vielleicht 50'000. Eine solche Menschenmenge wäre definitiv nicht mehr zu kontrollieren. Deswegen soll die Opposition mit aller Macht kleingehalten werden.

Kommt hinzu, dass der vermeintlich allmächtige Kreml in einer schwierigen Phase steckt. Die Stimmung im Land verschlechtert sich langsam. Viele Russen spüren die wirtschaftliche Stagnation, müssen die Gürtel enger schnallen. Aussenpolitische Erfolge wie die Krim-Annexion oder der Krieg in Syrien haben sich abgenutzt. So richtig begeistern kann sich dafür niemand mehr.

Was folgt nach 2024?

Noch sagen über 60 Prozent der Russen, dass sie Putin unterstützen. Aber es waren auch schon über 80 Prozent. Die Popularität des «Nationalen Führers», wie Putin sich nennen lässt, sinkt. Und es droht 2024 – in diesem Jahr muss Putin eigentlich seinen Präsidentenposten abgeben. So will es die Verfassung. Was folgt dann? Bleibt der Kreml-Chef mit Hilfe eines Tricks? Lässt er die Verfassung ändern? Ernennt er einen Nachfolger? 2024 wird ein risikoreiches Jahr für das ganze System. Das macht die Moskauer Machtelite jetzt schon nervös.

In dieser Gemengelage erscheint der starke Kreml plötzlich überraschend schwach. Und deswegen setzt er auf Härte.

Von der Staatsmacht sind in absehbarer Zeit keine Kompromisse zu erwarten. Die Opposition ihrerseits hat heute bewiesen, dass sie auf ihren Rechten besteht – und dafür kämpfen will. Moskau könnte vor einem heissen Herbst stehen.

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