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Rail Baltica und Ostbahn Die berühmte Eisenbahnbrücke zwischen Berlin und Sankt Petersburg

Die Eisenbahn war das Internet des 19. Jahrhunderts. Jetzt erlebt sie mit der Rail Baltica in Osteuropa eine Wiedergeburt.

Über 800 Meter lang ist die alte Eisenbahnbrücke von Tczew oder Dirschau, wie die Kleinstadt an der Weichsel früher hiess, 30 Kilometer südlich von Danzig. Fertiggestellt wurde sie 1857, der Schweizer Ingenieur Rudolph Eduard Schinz war für die Statik zuständig.

Man hat sie in eine Reihe mit den Weltwundern gestellt.
Autor: Jan Musekamp Historiker am Deutschen Historischen Institut

Optisch war die Brücke mit den wuchtigen Portalen und turmähnlichen Pfeilern einer mittelalterlichen Burg nachempfunden, technisch war sie State-of-the-Art. «Für die Zeitgenossen war die Brücke ein Jahrhundertbauwerk», sagt der Historiker Jan Musekamp vom Deutschen Historischen Institut in Warschau, «man hat sie in eine Reihe mit den Weltwundern gestellt».

Wo der Zweite Weltkrieg begann

Die Brücke war strategisch so wichtig, dass sie das erste militärische Ziel des deutschen Angriffs am 1. September 1939 war. Der Zweite Weltkrieg begann in Dirschau.

Die Brücke wurde bei diesem Angriff teilweise zerstört, dann notdürftig repariert, aber seit 2010 ist sie unterbrochen. Die einzige Eisenbahnverbindung auf dieser Strecke führt seither über eine zweite Brücke, die 1891 gebaut wurde. Währenddessen wartet die berühmte Brücke von Dirschau weiter auf ihre Wiederauferstehung.

Von London nach Sankt Petersburg in nur zwei Tagen

Das imposante Bauwerk ist vielleicht sogar die berühmteste Brücke zwischen Berlin und Sankt Petersburg. Sie ist Symbol eines beispiellosen Booms: Dauerte die Reise von London nach Sankt Petersburg 1835 noch 38 Tage, waren es 1914 knapp 48 Stunden. Vor allem dank der sogenannten Ostbahn, der Eisenbahnverbindung von Berlin ins damalige Königsberg, heute Kaliningrad, und dann weiter nach Sankt Petersburg.

«Man könnte sagen, die Eisenbahn war das Internet des 19. Jahrhunderts», erklärt Historiker Jan Musekamp, «vor allem, wenn man den Telegrafen dazu nimmt.» Entlang der Eisenbahnlinien wurde immer auch eine Telegrafenleitung verlegt: «Die Nachrichtenübermittlung, die zuvor Wochen dauerte, wurde damit auf Minuten reduziert», sagt Jan Musekamp.

Schienen gegen oder für den Krieg?

Ähnlich hochfliegend wie beim Internet in den 1990er-Jahren waren auch die Hoffnungen, die die Eisenbahn im 19. Jahrhundert weckte. Nicht nur Wohlstand und Reisemöglichkeiten stiegen sprunghaft, sondern auch der Krieg würde sinnlos, so die Hoffnung. Weil die Armeen verfeindeter Staaten sehr rasch an neuralgische Punkte verlegt werden könnten, mache ein bewaffneter Konflikt keinen Sinn mehr. Keine Seite hätte einen Vorteil. Die Armeen würden sich bis auf die Zähne bewaffnet gegenüberstehen: Zeit für Verhandlungen.

Es kam bekanntlich anders: Die Eisenbahn war und ist ein wesentlicher Bestandteil des modernen Kriegs.

Der Zweite Weltkrieg zerstörte die Lebensadern zwischen Ost- und Westeuropa. Dauerte eine Zugfahrt von Berlin nach Königsberg/Kaliningrad 1939 sechseinhalb Stunden, waren es 2019 rund 16 Stunden. Und seit dem Krieg in der Ukraine ist die Verbindung komplett unterbrochen. Eine Änderung ist nicht absehbar. Heute liegt Tczew/Dirschau auf einem Nebengleis der Geschichte.

Jahrhundertprojekt für das Baltikum

Und dennoch erlebt die Ost-West-Eisenbahnverbindung in Europa gerade jetzt eine Wiedergeburt. In einem tristen Industriegebiet in der estnischen Hauptstadt Tallinn hämmern die Pressluftbohrer. «Wir sind hier mitten in einer Baustelle, aber bald soll hier ein gläserner Knotenpunkt für tausende Menschen entstehen», sagt Lauri Ulm, Projektmanager der sogenannten Rail Baltica in Estland.

Diese neue Eisenbahnverbindung soll Helsinki – zunächst über eine Fähre, später vielleicht durch einen Tunnel – mit Tallinn in Estland, Riga in Lettland und Kaunas und Vilnius in Litauen verbinden und von dort nach Warschau und Westeuropa führen.

870 Kilometer lang soll die geplante Rail Baltica werden; die Kosten von sieben Milliarden Euro werden hauptsächlich von der EU übernommen. Eigentlich sollte sie bereits 2026 in Betrieb gehen, aber Unstimmigkeiten zwischen den drei baltischen Staaten, die sich weniger nahe sind, als man denken würde, haben das Vorhaben massiv verzögert. Nun soll die Rail Baltica 2030 eröffnet werden.

Militärische und wirtschaftliche Bedeutung

Der Krieg in der Ukraine hat die baltischen Staaten zusammenrücken lassen und dem Projekt den nötigen Schub verliehen. Denn die Eisenbahnverbindung ist auch militärstrategisch bedeutsam: Das neue Schienennetz hat die europäische Spurweite und nicht mehr die breitere russische; falls die Nato beispielsweise Panzer ins Baltikum verlegt, müssen sie nicht mehr einzeln an der polnisch-litauischen Grenze auf Waggons mit russischer Spurweite umgeladen werden.

Auch wirtschaftlich ist die Rail Baltica ein Meilenstein: Bislang müssten die skandinavischen Staaten Güter nach Zentraleuropa umständlich per Schiff über Rotterdam transportieren, erklärt der estnische Projektleiter der Rail Baltica, Lauri Ulm. In Zukunft übernehme das die neue Bahn. Und auch ökologisch spielt die Rail Baltica eine wichtige Rolle, denn das russische Schienennetz war schlecht ausgebaut. «Entlang der künftigen Strecke der Rail Baltica ist heute jedes fünfte Fahrzeug ein Lastwagen», erklärt Lauri Ulm, «diese Transporte können künftig von der Bahn übernommen werden».

«Mit dieser Rail Baltica würde die alte Verbindung teilweise auf derselben Route wiederentstehen», sagt Historiker Jan Musekamp. Es ist ein Jahrhundertprojekt für die baltischen Staaten, wie die frühere sogenannte Ostbahn. Nur die Verbindung zu Russland bleibt unterbrochen. Die baltischen Staaten rücken mit der Rail Baltica näher an den Westen, weiter weg vom gefürchteten Nachbarn Russland.

Literatur

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  • Musekamp, Jan: Shifting Lines, Entangled Borderlands. Mobilities and Migration along the Prussian Eastern Railroad, Indiana University Press, Indiana, 2024.

Echo der Zeit, 30.5.2025, 18 Uhr; sten

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