Zum Inhalt springen

Header

Zur Übersicht von Play SRF Audio-Übersicht

Recht vs. «Catcalling» «Eine ungewollte sexistische Ansprache ist kein Flirt»

Es geschieht auf der Strasse, im Tram, in der Bar: Männer rufen Frauen anzügliche Bemerkungen hinterher. Unangenehm für die Betroffenen, herabwürdigend, oft gar bedrohlich. Ähnliche erniedrigende Erfahrungen machen Homosexuelle und trans Menschen, weiss Christa Binswanger, Geschlechterforscherin an der Universität St. Gallen. Nun wird in Deutschland diskutiert, ob solche Vorkommnisse strafrechtlich zu ahnden sind. Geprüft wird ein neuer Straftatbestand der verbalen sexuellen Belästigung.

Christa Binswanger

Geschlechterforscherin

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Christa Binswanger ist Geschlechterforscherin und leitet den Fachbereich Gender und Diversity an der Universität St. Gallen.

SRF News: Wo verläuft die Grenze zwischen einem harmlosen, allenfalls verunglückten Kompliment und einer sexuellen Belästigung?

Christa Binswanger: Bei verbaler sexueller Belästigung geht es um verbale Übergriffe auf eine Person, um diese aufgrund ihres Geschlechts zu verunsichern und abzuwerten. Eine ungewollte sexistische Ansprache ist kein Kompliment und auch kein Flirt, sondern eine Degradierung der angesprochenen Person, eine Geste der Dominanz und Überlegenheit. Deshalb kann es als eine Form von Machtausübung eingeordnet werden und ist eben kein wohlgemeintes Kompliment. Man muss aber jede Handlung kontextualisieren: Ist die Person, der nachgepfiffen wird, alleine? Ist es vielleicht schon dunkel? Fühlt sie sich dadurch verunsichert? Mit diesem potenziell einzuführenden Straftatbestand geht es nicht ums Nachpfeifen auf der Strasse, sondern um Äusserungen, die einer Person zu nahe gehen und ihre Integrität in irgendeiner Weise verletzen.

Welche Handlungen und Äusserungen sollen konkret verboten werden?

Es geht zum Beispiel um unangemessene sexuelle Anspielungen, um Kommentierungen von Körper und Körperformen oder auch um sexistische Einordnungen von Handlungen.

Liessen sich solche Vorkommnisse nicht unter dem Stichwort Beleidigung ahnden und verurteilen?

Der Straftatbestand der Beleidigung schliesst in Deutschland solche Äusserungen bislang eigentlich nicht oder nur in sehr seltenen und krassen Fällen ein. Bis jetzt gelten sexuelle Anspielungen im deutschen Recht nicht als Beleidigung.

Wie kann man jemandem eine verbale sexuelle Belästigung juristisch wasserdicht nachweisen?

Dieses Problem betrifft sehr viele Bereiche der Rechtsprechung zu geschlechterbasierter Gewalt bis hin zur Vergewaltigung. Am hilfreichsten bei der verbalen Gewalt wären Personen, die das Ereignis bezeugen können. Es betrifft aber auch die sozialen Netzwerke. Auch dort soll gegen bestimmte Formen von «Hatespeech» vorgegangen werden, und dort wäre es dann sehr wichtig, Beweise zu sichern, wenn eine Person gegen diese Form verbaler Übergriffe vorgehen möchte.

Sexualisierte Übergriffe sind in unserer Gesellschaft leider ziemlich normalisiert.

Kann ein solches Gesetz auch präventiv wirken?

Das wäre die Hoffnung oder der Wunsch. Sexualisierte Übergriffe sind in unserer Gesellschaft leider ziemlich normalisiert. Wenn man dagegen angehen möchte, stellt sich die Frage, ob das Recht das richtige Instrument ist. Das Recht greift ja in der Regel erst bei sehr extremen Formen von Übertritten. Was es bewirken könnte, ist, dass darüber nachgedacht wird, dass das Bewusstsein steigen kann – dass es nicht okay ist, eine Person, die ich gar nicht kenne, auf diese Art im öffentlichen Raum anzusprechen und diese Grenzen einer persönlichen Integrität einfach so zu durchbrechen, weil ich jetzt gerade mal Lust dazu habe. Das ist nicht okay. Und dafür könnte ein Bewusstsein geschaffen werden.

Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.

Echo der Zeit, 16.10.2025, 18 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel