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Wladimir Putin und das Geschichtsbild Russlands
Aus Echo der Zeit vom 21.02.2024. Bild: EPA/GAVRIIL GRIGOROV/SPUTNIK/KREMLIN
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Russland und Ukraine Putin biegt Geschichte nach seinem Weltbild

Der russische Herrscher legt besonderen Wert auf seine Auffassung der Geschichte. Sie war entscheidend für den Angriff auf die Ukraine.

Ob er die Ukraine aus Angst vor einem Überfall der USA auf Russland angegriffen habe, wollte Tucker Carlson als Erstes von Wladimir Putin wissen.

Er bekam nicht die Antwort, die er erwartet hatte. «Ich habe nie gesagt, dass die USA uns überfallen wollten», so Putin. «Erlauben Sie mir, Ihnen ganz kurz den geschichtlichen Hintergrund zu erklären.»

Geschichtsvortrag übers Mittelalter

Es folgte ein Vortrag, der mehr als 20 Minuten dauerte. Putin ortete die Ursprünge des modernen russischen Staates im 9. Jahrhundert und erklärte mit Daten und Verträgen, weshalb weite Teile der heutigen Ukraine «historisch russisch» seien.

Die Ukraine hingegen sei ein künstliches Gebilde aus der Sowjetzeit, die ukrainische Nation ursprünglich eine Erfindung fremder Mächte, um Russland zu schwächen.

Putins Thesen für Historiker nicht stichhaltig

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Für die seriösen Historikerinnen und Historiker sind Putins Thesen nicht stichhaltig. Doch sie fussen auf einer Russland-zentrischen Wahrnehmung, die in Russland selbst weit verbreitet ist: dass das Ukrainische eine Unterkategorie des grossen russischen Volkes sei, Russland sozusagen der grosse Bruder und die Ukraine die kleine Schwester. Diese Sicht geht auf die zaristische und die sowjetische Geschichtsschreibung zurück, mit der Putin aufgewachsen ist.

Dass Russland ein historisches Recht darauf habe, die Ukraine zu kontrollieren, ist Thema der meisten Putin-Reden der letzten Jahre. Doch das war nicht immer so, obwohl sich Putin schon immer für Geschichte interessierte.

Früh in seiner Amtszeit sagte er Lehrerinnen und Lehrern, der Geschichtsunterricht müsse «bei jungen Menschen Stolz auf ihr Land wecken». Am wichtigsten war die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Später forderte er, in den Schulbüchern dürfe es keine «Widersprüche oder Doppeldeutigkeiten» geben.

Geschichte zur Legitimation des starken Staats

Putin wollte ein einendes nationales Narrativ, das seinen starken Staat legitimieren würde. Dieser bringe einen Neuanfang nach dem Chaos der 1990er-Jahre, als Russland seine Identität verloren habe.

Dazu passt sein berühmtes Zitat von 2005, der Zerfall der Sowjetunion sei eine Katastrophe gewesen, ein Drama für die Menschen in Russland. Doch er, Putin, werde die alte Stabilität und den Stolz der Nation wiederherstellen.

Putin.
Legende: Im Interview mit dem rechten US-Journalisten Tucker Carlson legte Putin seine ganz eigene Interpretation der Geschichte der Ukraine dar. Reuters

Putins Geschichtsbild prägte bald auch seine Aussenpolitik. So störte sich der Kreml etwa an der Entfernung von sowjetischen Kriegsdenkmälern im Baltikum. Doch das Verhältnis zur Ukraine hatte immer eine andere Qualität.

Am Nato-Gipfel 2008 soll Putin die Ukraine als «keinen echten Staat» bezeichnet und damit gegen eine Annäherung des Landes an den Westen argumentiert haben. Dass die Ukraine als eigenständige Nation handeln und ihre Bündnisse wählen konnte, schien er nicht zu begreifen.

Rückgriff auf Katharina die Grosse

Putins Aberkennung der ukrainischen Eigenständigkeit zeigte sich bei der Maidan-Revolution wieder, im Winter 2013/14 in Kiew. Diese deutete er als vom Westen gesteuerten Putsch. Als Antwort annektierte Russland die Krim und schickte Truppen in die Ostukraine.

Diese Gebiete, aber auch Charkiw, Odessa, Cherson und andere, hätten ursprünglich gar nie zur Ukraine gehört, erklärte Putin. Vielmehr bildeten sie «Novorossija», oder «Neurussland», das schon Katharina die Grosse im 18. Jahrhundert erobert hatte.

Das Zarenreich als Putins Vorbild

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Das Zarenreich wurde in Putins Rhetorik in den Jahren nach 2014 immer wichtiger. In dieser Zeit, so erzählen seine Vertrauten, soll sich der Präsident um seine eigene historische Rolle gesorgt und sich in Geschichtsbücher und Archivalien vertieft haben.

Während der Corona-Pandemie zog sich Putin zunehmend zurück und umgab sich mit einem kleinen Kreis von Hardlinern. Das Resultat präsentierte er im Sommer 2021: Einen langen, wütenden Aufsatz, der mit historischen Argumenten die Grenzen und die Staatlichkeit der Ukraine offen infrage stellte. Russen und Ukrainer seien «ein Volk», schrieb er. Acht Monate später verkündete Putin die Spezialoperation im Nachbarland.

«Um unser Vorgehen zu verstehen, müssen wir über die Geschichte sprechen», sagte Putin zu Beginn des Angriffs auf die Ukraine Ende Februar 2022 in seiner Ansprache an die Nation. «Die heutige Ukraine wurde voll und ganz von Russland geschaffen, genauer vom kommunistischen Russland.»

Auch wenn sie stimmen würden, wären Putins Thesen keine Rechtfertigung für seinen Angriffskrieg.

Und bald zerschellte sein Geschichtsbild an der Realität: Anstatt ihre russischen «grossen Brüder» willkommen zu heissen, wehren sich die Ukrainerinnen und Ukrainer bis heute.

Echo der Zeit, 21.2.2024, 18:00 Uhr

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