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Sacharow-Preis für Ilham Tohti «China bezeichnet den Preisträger als Kriminellen»

Der chinesische Regierungskritiker Ilham Tohti hat den diesjährigen Sacharow-Preis erhalten. Er ist Wirtschaftswissenschafter und gehört der uigurischen Minderheit in China an. Der 50-Jährige sitzt allerdings seit 2014 im Gefängnis, was seine Möglichkeiten, sich für die Volksgruppe einzusetzen, erheblich einschränkt, wie SRF-China-Korrespondent Martin Aldrovandi sagt.

Martin Aldrovandi

Südostasien-Korrespondent

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Martin Aldrovandi berichtet seit Frühjahr 2023 als Korrespondent für Radio SRF aus Südostasien. Zuvor war er von 2016 bis Sommer 2022 Korrespondent für Radio SRF in Nordostasien mit Sitz in Schanghai. Davor hatte er mehrere Jahre lang als freier Journalist aus dem chinesischsprachigen Raum berichtet.

SRF News: Tohti hat die chinesische Regierung oft kritisiert. Wie reagiert diese darauf, dass er nun den renommierten Sacharow-Preis erhält?

Martin Aldrovandi: Die chinesische Regierung hat bereits bei der Nominierung im August verschnupft reagiert. Sie sagte damals, dass man mit diesem Menschenrechtspreis versuche, einen Separatisten und Terroristen weiss zu waschen. Am Donnerstag antwortete das chinesische Aussenministerium auf eine Anfrage von Reuters und bezeichnete den Preisträger als Kriminellen.

Wie berichten die Medien in China über diese Preisvergabe?

Wenig überraschend gibt es kaum Berichte darüber in den chinesischen Medien. Solche Themen werden in der Regel totgeschwiegen. Und auch in den sozialen Medien werden sie schnell gelöscht, wenn sie denn auftauchen.

Die chinesischen Behörden haben Tohti immer wieder verhaftet, zuletzt 2014. Seither sitzt er in Haft. Was werfen sie ihm konkret vor?

China wirft ihm Separatismus vor. Er soll ethnischen Hass geschürt haben; auch von Terrorismus ist die Rede. Dies, obwohl Tohti als moderate Stimme galt, die sich für den Dialog zwischen der uigurischen Minderheit und der Han- chinesischen Mehrheit eingesetzt hat. Dafür lobte ihn der Präsident des Europäischen Parlaments, David Sassoli, bei der Verkündigung des Preises.

Welche Rolle spielt er für die rund neun Millionen Uiguren in China?

Konkret kann er nicht mehr viel tun. Er sitzt seit fünf Jahren in Haft – und zwar lebenslänglich. Seither ist viel passiert in der Region Xinjiang. Sie steht im Fokus der Weltöffentlichkeit, seit vor zwei Jahren bekannt wurde, dass unzählige Uiguren, aber auch andere Minderheiten in der Region in Lagern eingesperrt sind. China hatte die Existenz dieser Lager erst abgestritten, dann allmählich zugegeben. Dann wurde gesagt, es handle sich um Berufsbildungszentren, während Menschenrechtsorganisationen und Augenzeugen von Gefängnissen und von Folter sprechen. Die Überwachung der Menschen in Xinjiang wurde in den letzten Jahren massiv ausgebaut.

Der Preis ist auch eine Kritik an der chinesischen Regierung – ja fast eine regelrechte Provokation.

Es herrscht ein Klima der Angst. Ich war vor rund einem Jahr dort und kaum jemand traute sich, mit mir zu reden. Und die, die redeten, erzählten von Angehörigen, die eingesperrt sind, von denen man nicht weiss, wann sie wieder freikommen, oder sie befürchteten, selbst eingesperrt zu werden.

Sacharow-Preis
Legende: Der Sacharow-Preis wird vom Europäischen Parlament vergeben, an Persönlichkeiten oder Organisationen, die sich für Menschenrechte und die Meinungsfreiheit einsetzen. Keystone

Was bedeutet der Preis für den Kampf der Uiguren?

Er hat eine symbolische Bedeutung. Das ist sicher wichtig. Der Preis zeigt zumindest, dass man das Schicksal der Menschen dort im Ausland nicht vergisst. Denn viele Uiguren fühlen sich von der internationalen Gemeinschaft ungenügend unterstützt. Man denke zum Beispiel an die vielen islamischen Staaten, die China für das Vorgehen gegen die Uiguren nicht nur nicht verurteilen, sondern auch noch unterstützen. Insofern wird der Preis wahrscheinlich nicht sofort etwas ändern. Aber es ist eine Botschaft an die Menschen, dass sie nicht vergessen werden. Und das ist auch eine Kritik an der chinesischen Regierung – ja fast eine regelrechte Provokation.

Das Gespräch führte Roger Aebli.

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