SRF News: Pascal Weber, Sie und Kameramann Diego Wettstein sind gerade aus West-Mossul zurückgekehrt. Wie ist die aktuelle Lage?
Pascal Weber: Die irakische Armee hat gestern ein weiteres Stadtviertel von West-Mossul vollständig zurückerobert. Damit kontrolliert der IS noch zwei Stadtteile: Das Viertel Shifa und die Altstadt. Doch gerade dort steht die schlimmste Schlacht noch bevor. Das könnten die schwierigsten und verlustreichsten Kämpfe der ganzen Offensive werden.
Einige Militärs sprechen von bis zu einem Monat, den dieser Kampf dauern könnte. Denn der IS leistet immer noch heftigen Widerstand: Erst gestern haben mehrere Dutzend mit Sprengstoffwesten ausgerüstete IS-Kämpfer eine grössere Gegenoffensive gestartet, die zwar am Ende erfolglos war, der irakischen Armee aber trotzdem grosse Verluste brachte.
Die Lage der Bevölkerung ist unmenschlich.
Wie präsentiert sich die Situation für die Zivilbevölkerung?
Die Lage der Bevölkerung ist unmenschlich. Von oben fallen Bomben und Artilleriegeschosse der irakischen Armee sowie der internationalen Koalition und von hinten schiesst der IS auf die Flüchtlinge.
Der IS benutzt die Menschen auch als Schutzschilde. Wenn sich die Terrormiliz aus einem Quartier zurückziehen muss, dann zwingt er die Menschen häufig mitzukommen. Denn der IS weiss genau: Wenn diese Menschen nicht wären, dann würde die irakische Armee ganz anders vorgehen. Die Menschen können nichts anders tun als warten, bis die irakische Armee nah genug ist und dann die Flucht wagen. Das ist ein grosses Risiko: Denn der IS schiesst auf die Flüchtenden. Es spielen sich schreckliche Szenen ab. Wir wissen von Fluchtversuchen, wo sich aus einer Gruppe von zwanzig Zivilisten nur zwei oder drei retten konnten. Die Situation in Mossul ist so eng ineinander verflochten, dass extrem schwierig ist, die Stadt mit möglichst wenigen zivilen Opfern zurückzuerobern.
Warum ist die Schlacht um Mossul so wichtig?
Mossul ist die zweitgrösste Stadt im Irak. Und: Hier hat der IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi das Kalifat ausgerufen. Allein aus diesen zwei Gründen ist die Rückeroberung Mossuls für den Irak extrem wichtig. Falls die irakische Armee Mossul zurückerobert, hätte das eine enorme symbolische Wirkung: Es würde die militärische Niederlage des IS im Irak bedeuten.
Noch viel wichtiger ist aber, wie Mossul zurückerobert wird. Denn das ist für die Zukunft Iraks entscheidend. Wenn in Mossul keine Formel gefunden wird, wie die verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Ausgleich miteinander leben können, dann wird der gesamte Irak keine Zukunft haben.
Man muss sich immer wieder in Erinnerung rufen: Diese Situation ist nicht normal.
Sie waren zwei Tage lang im Frontgebiet unterwegs. Wie haben Sie sich dort bewegt?
Wir waren hauptsächlich mit dem obersten Arzt in West-Mossul, Major Mohammed, unterwegs. Ihm unterstehen alle Feldlazarette und Notaufnahmestellen. Mit ihm und den Soldaten, die ihn bewachen, bewegten wir uns entlang der Frontlinie. Wir haben auch im gleichen Haus wie sie übernachtet.
I n einem Kriegsgebiet wird man mit unfassbarem Leid konfrontiert. Wie bleiben Sie als Journalist in einer solchen Situation professionell?
Das ist nicht einfach. Natürlich geht es einem enorm nahe, wenn man beispielsweise Kinder sieht, die mit Bauchschuss ins Lazarett eingeliefert werden. In solchen Momenten versuche ich nur noch zu funktionieren und die Einordnung des Gesehenen auf später zu verschieben. Das Problem ist, dass wir inzwischen so oft in solchen Gebieten unterwegs waren, dass solche Situationen teilweise «normal» werden. Das ist gefährlich. Man muss sich immer wieder in Erinnerung rufen: Diese Situation ist nicht normal.
Das Gespräch führte Andreas Reich.