Am Mittwoch verkündet das oberste britische Gericht sein Urteil über den Antrag der schottischen Regionalregierung, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum abhalten zu dürfen. Die britische Zentralregierung lehnt ein erneutes Referendum ab.
SRF News: Falls die Richter das Referendum zulassen, was würde das konkret bedeuten?
Patrik Wülser: Das wäre für die schottische Nationalpartei, insbesondere auch für ihre umtriebige Regierungschefin Nicola Sturgeon ein Erfolg. Ihr Plan ist, in ziemlich genau einem Jahr in Schottland ein Unabhängigkeitsreferendum durchzuführen – egal, ob das der britischen Regierung gefällt oder nicht.
Für die britische Regierung wiederum wäre der Entscheid eine Ohrfeige. Downing Street hat bis jetzt die Verfassung so interpretiert, dass ein solches Referendum nur mit dem Einverständnis der britischen Regierung in London erfolgen kann.
Welche Folgen hätte ein Nein des obersten Gerichts in London für die schottische Regierung?
Es würde die Haltung der britischen Regierung bestätigen und wäre eine politische Niederlage für die schottische, deren Hauptanliegen die Unabhängigkeit ist. Sturgeons Regierung würde wahrscheinlich das machen, was sie immer schon angekündigt hat, und bei einem Nein die nächsten Parlamentswahlen als Referendum deuten. Jede Stimme für die schottische Nationalpartei würde als Votum zur Unabhängigkeit gewertet. Was das konkret bei der Umsetzung in der politischen Realität bedeutet, weiss zur Stunde jedoch niemand.
Das letzte Unabhängigkeitsreferendum fand vor acht Jahren statt. Die Mehrheit der schottischen Bevölkerung wollte damals im Vereinigten Königreich bleiben. Wieso soll es nun wieder eine Abstimmung über diese Frage geben?
Die Frage ist berechtigt, denn selbst Nicola Sturgeon bezeichnete das damalige Referendum als Einmal-pro-Generation-Abstimmung. Diese Argumentation haben die britischen Regierungen unter Boris Johnson und später Liz Truss übernommen und ein erneutes Referendum immer klar abgelehnt. Die schottische Nationalpartei argumentiert jedoch jetzt, dass der Brexit die Ausgangslage völlig verändert habe.
Die schottische Regierung möchte in die EU zurückkehren.
Die Mehrheit der Schottinnen und Schotten stimmte gegen den Brexit, man sei von konservativen englischen Nationalisten aus der EU gezerrt worden. Deshalb müsse die Frage der Unabhängigkeit erneut gestellt werden, bekommt man zu hören, wenn man als Journalist durch Schottland reist. Ehrlicherweise muss man jedoch sagen, dass die Frage nach der Unabhängigkeit Schottland immer noch spaltet und Umfragen weder eine überwiegende Mehrheit für noch gegen die Unabhängigkeit zeigen.
Warum ist einigen in Schottland die Unabhängigkeit so wichtig?
Rund die Hälfte der Schottinnen und Schotten wollen die Unabhängigkeit. Sie fühlt sich von London nicht vertreten. Die Tories, die Konservativen, welche das Vereinigte Königreich regieren, sind in Schottland eine klare Minderheit. Die schottische Nationalpartei ist überzeugt, dass man als eigenständige, freie Nation erfolgreicher wäre, auch wirtschaftlich.
Die schottische Regierung möchte zudem in die EU zurückkehren.
Bis vor wenigen Jahren träumte man davon, die Erträge der Öl- und Gasvorkommen in der Nordsee nicht mehr mit London teilen zu müssen. Heute träumt man von einem Eldorado der erneuerbaren Energien. Die schottische Regierung möchte zudem in die EU zurückkehren. Doch viele Fragen für diesen Weg sind noch nicht geklärt, etwa jene zur Grenze zwischen England und Schottland oder welche Währung das Land haben würde.
Das Gespräch führte Yves Kilchör