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Schulen in Ungarn Viktor Orban schreibt die Geschichte neu

Die Lehrpersonen in Ungarn müssen sich nicht nur mit Corona-Schutzkonzepten herumschlagen, sondern auch mit einem neuen, höchst umstrittenen Lehrplan. Dieser hat zum Ziel, den Kindern mehr Patriotismus einzuimpfen.

Ildiko Reparszky blättert im neuen Geschichtsbuch für die fünfte Klasse – die Geschichtslehrerin ärgert sich. «Da steht, die Ungaren stammten von den Hunnen ab. Auch Magyar, das ungarische Wort für die Ungaren, kommt von den Hunnen», liest sie vor. Ein Hunnenkönig habe ihnen im 6. Jahrhundert diesen Namen gegeben.

Das ist Unsinn. Die Magyaren kamen erst drei bis vier Jahrhunderte nach dem Reitervolk der Hunnen in die Gegend, die heute Ungarn ist. Und die Behauptung, die Ungaren seien verwandt mit Attila dem Hunnenkönig aus Asien, dem Feldherren, der Westeuropa das Fürchten lehrte, ist bloss eine Legende.

Die neuen Geschichtsbücher vermischen Fakten und Legenden. Sie übertreiben die historische Bedeutung der Ungaren.
Autor: Ildiko Reparszky Geschichtslehrerin

Und genau da liege das Problem, sagt Reparszky. «Die neuen Geschichtsbücher vermischen Fakten und Legenden. Sie übertreiben die historische Bedeutung der Ungaren, versuchen sie etwa in eine Linie mit dem sagenumwobenen Hunnenkönig zu stellen.» Es sei eine schöngefärbte Version der ungarischen Geschichte, die der neue Lehrplan vorsehe, sagt die Geschichtslehrerin.

Der Lehrplan sei von Geschichtskennern abgesegnet, er sei modern und patriotisch, entgegnet Zoltan Kovacs, der ungarische Regierungssprecher. Die Geschichte zu verfälschen, sei doch nicht patriotisch, findet Reparszky.

Im Streit um die Hunnen spiegelt sich der tiefe Graben, der Ungarn seit zehn Jahren spaltet. So lange regiert Viktor Orban schon. Politisch hat er alles erreicht. Jetzt will er seine christlich-nationalistische Werthaltung auch in den Köpfen der Ungarinnen und Ungaren verankern, will, wie er sagt, das politische System in eine neue kulturelle Ära einbetten.

Lehrplan einer Diktatur?

Zu dieser neuen Ära gehört auch der neue nationale Lehrplan. Der formuliert Lernziele wie diese: Schulabgängerinnen und Schulabgänger sollen stolz sein auf die «Vergangenheit ihres Volkes». Und: Sie sollen in der Lage sein, sich «Beispiele für Selbstaufopferung und Heldentum im Verteidigungs- und Freiheitskampf der ungarischen Nation zu vergegenwärtigen.»

Das sei der Lehrplan einer Diktatur, sagen die Orban-Gegner. Nicht alle drücken sich so drastisch aus, aber eine Mehrheit der Lehrer lehnt den neuen Lehrplan ab.

Die Schlinge um den Hals der Lehrerinnen und Lehrer wird immer enger.
Autor: Ildiko Reparszky Verband der Geschichtslehrerinnen und -lehrer in Ungarn

Der Regierungssprecher hat dafür kein Verständnis. «Alle Lehrerverbände konnten mitreden. Wir haben uns auf diese Experten verlassen. Der neue Lehrplan ist keine politische Entscheidung», sagt Kovacs. Stellung nehmen konnte Ildiko Reparszky vom ältesten und grössten Geschichtslehrerverband auch zu den neuen Geschichtsbüchern. Aber berücksichtigt wurden ihre Anmerkungen nicht.

Weitere Geschichtsbücher in Produktion

Nun ist der neue Lehrplan, sind die neuen Geschichtsbücher verbindlich. Reparsky will im neuen Schuljahr dennoch weitermachen wie bisher. Mit eigenem Material, mit einem ausgewogenen Geschichtsbild. Aber das werde immer schwieriger. «Die Schlinge um den Hals der Lehrerinnen und Lehrer wird immer enger.» Es gebe sogar schon Aufrufe, Lehrer zu denunzieren, die sich nicht an den neuen Lehrplan hielten.

Dabei kommen die wirklich heiklen Themen erst. Die Geschichtsbücher, in welchen zum Beispiel die Rolle Ungarns im Zweiten Weltkrieg behandelt wird, werden erst gerade geschrieben. Von den gleichen Leuten, die die Ungaren in die Nähe von Attila dem Hunnenkönig rücken.

Rendez-vous vom 4.9.2020

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