- Lettisches Parlament hat einem Gesetz zugestimmt, das den Austritt aus der Istanbul-Konvention vorsieht.
- Das EU-Land ist der Konvention zum Schutz von Frauen erst vor anderthalb Jahren beigetreten.
- Gegnerinnen und Gegner sehen durch die Konvention traditionelle lettische Familienwerte gefährdet.
Den Austritt hat das Parlament nach einer mehrstündigen Diskussion in der Hauptstadt Riga gefällt. Die Debatte wurde sehr emotional geführt, sagt Linda Koponen, NZZ-Korrespondentin für das Baltikum, gegenüber SRF. Eine Abgeordnete habe von der häuslichen Gewalt in ihrer Familie berichtet, davon, wie ihr Vater die Mutter immer wieder geschlagen habe. «Es wurde durchaus auch persönlich», so Koponen.
Tönt stark nach dem, was auch Wladimir Putin immer wieder sagt.
Die Befürworterinnen der Istanbul-Konvention hätten auch davor gewarnt, dass die Gegner auf die Propaganda des Kremls hereinfallen. «Die Argumentation der Gegnerinnen und Gegner tönt wirklich sehr stark nach dem, was auch Wladimir Putin immer wieder sagt», erklärt Koponen.
Traditionelles Familienbild in Gefahr?
Kritikerinnen und Kritiker der Istanbul-Konvention befürchten, dass traditionelle lettische Familienwerte durch die Konvention untergraben werden. «Sie sehen vor allem die traditionellen Geschlechterrollen in Gefahr, auf denen die lettische Kultur basiere», sagt Linda Koponen weiter. Sie störten sich besonders am Begriff «soziales Geschlecht». Bei der Ratifizierung im Mai 2024 hat der lettische Sozialminister explizit festgehalten, dass die Konvention nicht damit verbunden sei, ein anderes Verständnis von Geschlecht im lettischen Rechts- und Bildungssystem einzuführen.
Das vom Parlament beschlossene Gesetz zum Austritt muss nun noch von Staatspräsident Edgars Rinkevics gebilligt werden. Wenn der baltische Staat wirklich aus der Istanbul-Konvention austritt, wäre er das erste EU-Land, das sich aus dem Vertrag zurückzieht. Lettland hat die Konvention erst vor anderthalb Jahren – im Mai 2024 – ratifiziert.
Fortbestand der Regierung noch unklar
Der Ausstieg ist mit einem Gesetzesentwurf verabschiedet worden, der von der Opposition ins Parlament eingebracht worden ist. Jedoch hat auch eine der drei Koalitionsparteien der Mitte-Links-Regierung von Ministerpräsidentin Evika Silina dem Gesetzesentwurf zugestimmt. Ob dies Auswirkungen auf den Fortbestand der Regierung haben wird, ist noch unklar.
Frauenrechtsorganisationen und Institutionen, die mit Gewaltopfern arbeiten, befürchten, dass die Aufkündigung des Übereinkommens den Schutz von Frauen und die Bemühungen um die Gleichstellung der Geschlechter schwächt.
Grosse Proteste gegen Austritt
Noch am Mittwoch haben in Riga Tausende Menschen gegen den Ausstieg aus der Istanbul-Konvention demonstriert. Auf Transparenten und in Sprechchören forderten die Demonstrierenden den Verbleib Lettlands in der Konvention. Nach Angaben der Polizei handelte es sich um eine der grössten Demonstrationen der vergangenen Jahre in Lettland – demnach hatte sie rund 5000 Teilnehmende.
Viele befürchten einen Rückschritt in der Gleichstellungspolitik.
Laut NZZ-Korrespondentin Koponen gibt es in Lettland eine Petition, die den Verbleib in der Istanbul-Konvention fordert und bereits von 20'000 Personen unterschrieben worden ist. «Viele in Lettland befürchten, dass der Austritt ein Rückschritt in der Gleichstellungspolitik bedeutet.»