Ein wahrer Schatz liegt zu seinen Füssen: Gourmetkoch Calum Munro geht mit gesenktem Blick langsam über einen grünen Algenteppich. Es ist Ebbe. Konzentriert hält der Koch in der Bucht von Portree auf der schottischen Insel Skye Ausschau nach schmackhaften Algen. Er trägt einen geflochtenen Korb in der einen Hand, bückt sich regelmässig kurz und greift mit der anderen Hand zu.
«Diese hier gehören zu den Besten – Meeres-Spaghetti», hält Munro erfreut mehrere, rund 20 cm lange Algen in die Höhe, die aussehen wie überdimensionierter Schnittlauch. «Meeres-Spaghetti sind sehr geschmackvoll. Man kann sie zubereiten wie Spaghetti, nur kurz aufkochen – damit sie eine angenehme Konsistenz bekommen.»
Wenn ich sehe, wie populär japanische Algen-Speisen sind, sehe ich keinen Grund, warum wir das nicht auch schaffen sollten.
Gourmetkoch Calum Munro betreibt im Hauptort von Skye seit gut zehn Jahren ein eigenes Restaurant mit rund zehn Tischen. «Scorrybreac» wurde schon wenige Monate nach Eröffnung in der Gourmet-Bibel, dem Guide Michelin, erstmals erwähnt. Munros Gäste lieben die wechselnden Algen-Gerichte, die er auf der Speisekarte hat.
«In der Vergangenheit waren Algen ein zentraler Bestandteil der schottischen Küche und wir können diese Tradition weiterentwickeln», ist der 39-Jährige überzeugt. «Japan macht es vor: Wenn ich sehe, wie populär japanische Algen-Speisen sind, sehe ich keinen Grund, warum wir das nicht auch schaffen sollten.»
Algen essen – dem Klima zuliebe
Shona Cameron stimmt Calum Munro zu. Sie begleitet den Koch regelmässig beim Algensammeln – meist mit Schulklassen oder Gruppen von Erwachsenen, die die Wunderwelt der Algen kennenlernen wollen. Shona Cameron ist Gründerin und Leiterin von Climavore, einer Agentur, die klimafreundliche Ernährungsformen erforschen und bekanntmachen will.
Das Klima dankt es uns, wenn wir mehr Algen und weniger Fleisch essen.
«Algen und Muscheln waren Teil unserer Kultur», sagt Shona Cameron. Sie lebt seit rund zehn Jahren auf der Insel Skye. Zuvor machte sie in Schottlands Hauptstadt Edinburgh einen Master in Kunstgeschichte und -kuratierung. «Während Jahrhunderten haben Menschen Algen gegessen. Das ist etwas in Vergessenheit geraten. Nun wollen wir diese Tradition wieder aufleben lassen», so Cameron.
Algen enthalten viele Proteine, Vitamine und Mineralien – was sie zu wertvollen Nahrungsmitteln macht. «Das Klima dankt es uns, wenn wir mehr Algen und weniger Fleisch essen», sagt Cameron. Sie komme nicht aus der Landwirtschaft, schiebt sie nach. Statt Nutztiere zu züchten, könnten schottische Bauern Algenkulturen in Ufernähe anlegen, schlägt die Leiterin von Climavore vor. «Es ist faszinierend, wie viele Algenarten es gibt. Da lässt sich etwas daraus entwickeln.»
Das Potenzial der Algen
Die kommerzielle Seetang-Produktion hat sich seit der Jahrtausendwende weltweit verdreifacht – von 118’000 Tonnen auf 358’000 Tonnen zwischen 2000 und 2019. Führend sind dabei China, Indonesien, die Philippinen oder Japan. Die britische Algenproduktion wächst zwar auch, fällt aber im internationalen Rahmen kaum ins Gewicht. Britische Firmen produzieren lediglich fünf Prozent der im eigenen Land nachgefragten Algen. 95 Prozent der verwendeten Algenprodukte werden aus Asien importiert.
Gegenwärtig sind 74 Firmen in Schottland und England im Algen-Geschäft tätig, hat Subash Yadav Ahir während seines Masterstudiums am schottischen Institut für Wasserkulturwissenschaften in Oban herausgefunden. Die Zahl der Unternehmen habe sich seit 2016 mehr als verdoppelt.
27 britische Unternehmen ernten Seetang, allerdings mehrheitlich wildwachsende Pflanzen. Nur eine Minderheit der Produzenten baue den Seetang in Kulturen an – «was längerfristig nicht nachhaltig sei», schreibt der Wasserkulturwissenschaftler.
Um natürlich entstandene Seetang-Zonen zu schützen, ist die mechanisierte Ernte von wildwachsenden Kelp-Algen in Schottland 2018 verboten worden. Weiterhin erlaubt ist eine nachhaltige Ernte von Knotentang und anderen Seetang-Arten, die bei Ebbe vom Meer freigelegt werden.
Laut Yadav wachsen vor der Küste des Vereinigten Königreichs rund 600 verschiedene Seetang-Arten. Die über weite Strecken dünnbesiedelte Küste eigne sich für die kommerzielle Algen-Nutzung. Die Braunalge Knotentang (Ascophyllum nodosum) sei die am meisten genutzte Art, noch vor den Kelp-Algen oder rotem Seetang.
Ein Drittel des genutzten Seetangs wird Speisen und Getränken beigemischt, schreibt Subash Yadav Ahir im Überblicksartikel auf der Wissensplattform, The Fish Site, der Branchenvereinigung der Wasserkulturindustrie. 19 Prozent der Algen werden in Kosmetikprodukten verwendet, 13 Prozent werden zu Nahrungsergänzungsstoffen und der Rest wird an Tiere verfüttert oder zu Dünger oder biologisch abbaubaren Verpackungen verarbeitet.
Aus Algen wird Biodünger
Das grosse Potenzial von Algen erkannt hat auch eine Gruppe von Algenzüchtern, die vor vier Jahren die Firma Kelpcrofter gegründet haben. Vor der Insel Skye kultivieren sie an langen Seilen Kelp-Algen. Diese Braunalgen wachsen sehr schnell und können bis zu drei Meter lang werden.
«Ich liebe meine Arbeit auf dem Meer», sagt Co-Gründerin Kyla Orr. Die Kelp-Algen eigneten sich für viele Anwendungen – als Nahrungszusatz für Mensch und Tier, für Kosmetik, Pharma oder Biodünger. «Am vielversprechendsten ist die Nutzung als Biodünger», sagt Kyla Orr nach vier Jahren im Geschäft. «Biodünger ist ein Riesen-Markt, und da werden auch gute Preise für den Rohstoff bezahlt.»
Noch befinde sich Kelpcrofter in der Anfangsphase, sagt Orr offen: «Wir könnten drei bis vier Mal so viel produzieren wie heute. Doch uns fehlen die Verarbeitungskapazitäten und eine regelmässige, gesicherte Abnahme.» Sie seien nun intensiv daran, Geschäftsbeziehungen aufzubauen.
Algen statt Plastik
Eine Geschäftspartnerin von Kyla Orr ist Alison Baker. Auch Baker ist erst seit kurzem im Algen-Geschäft. Sie betreibt seit zweieinhalb Jahren eine Algen-Verarbeitungsanlage an der Brücke zur Insel Skye. Sie wäscht, schreddert und trocknet Algen – und verkauft diese an Firmen weiter, die daraus meist Tierfutter oder Biodünger machen.
«Meine Vision ist es, eine naturnahe und nachhaltige Industrie aufzubauen», sagt Alison Baker. Ende 2021 hat die Unternehmerin zu diesem Zweck die Firma Eco-Cascade mitgegründet. Zuvor hatte Baker ein plastikfreies Modelabel aufgebaut und sich gegen die Plastikverschmutzung von Flüssen und Küstengebieten stark gemacht.
«Algen, wie beispielsweise Seetang, sind Wunderpflanzen – mit idealen Eigenschaften für Kosmetik- oder Pharmaprodukten und als Nahrungszusatz.» Aus Algen lasse sich viel gewinnen, wie ihre Tests und Forschungen zeigten, die sie zusammen mit schottischen Universitäten durchführt. «Wir testen auch die Verarbeitung zu Bio-Plastik – wollen herausfinden, ob sich die natürlichen Polymere der Kelp-Alge als kompostierbarer Plastikersatz eignen», sagt Alison Baker.
Noch wird bei Eco-Cascade viel von Hand gemacht. Das soll sich schnellstmöglich ändern. Sobald Grossabnehmer die Vorzüge des natürlichen Rohstoffs schätzen lernen, will Baker ihre Wasch- und Trocknungsanlage vergrössern und automatisieren. «Bei Grossunternehmen Interesse zu wecken für die Algen, ist harte Arbeit. Doch wir glauben fest daran, dass Algen eine grosse Zukunft haben.»