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Seit zwei Jahren Kriegszustand In der Ukraine brechen die politischen Gräben wieder auf

Präsident Selenski und Oberbefehlshaber Saluschni sind offenbar aneinander geraten. Der Krieg zerrt immer stärker an den politischen Nerven.

Als die Ukraine vor zwei Jahren von Russland angegriffen wurde, war die oberste Maxime in der ukrainischen Innenpolitik: Einigkeit. Die verschiedenen politischen Kräfte einigten sich auf einen Burgfrieden, man demonstrierte Geschlossenheit.

Nun, fast zwei Jahre nach Kriegsbeginn, sind Auseinandersetzungen und Streitereien zurück.

Präsident und General geraten aneinander

Derzeit blickt die Bevölkerung gebannt auf die beiden wichtigsten Männer des Landes, den Präsidenten Wolodimir Selenski und den Oberbefehlshaber der Armee, Valeri Saluschni.

Das Verhältnis zwischen Selenski und Saluschni ist schwierig.
Autor: Wolodimir Fessenko Ukrainischer Politikwissenschaftler

«Ihr Verhältnis ist schwierig und problematisch», sagt der ukrainische Politologe Wolodimir Fessenko. Es herrsche gegenseitiges Misstrauen, es gebe Eifersucht, Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse.

Das Treffen mit dem Politologen Fessenko findet tief im Untergrund von Kiew, in der Metro, statt. Denn schon wieder heulen die Sirenen, die vor russischen Raketen warnen.

Politische Konkurrenz und die Mobilisierungsfrage

Selenski und seine Leute hätten den Armeechef im Verdacht, dass er stark am eigenen Image arbeite und zu einem politischen Konkurrenten werden könnte, sagt Fessenko.

Dazu komme die Unzufriedenheit mit der schwierigen Lage an der Front. Und, ebenfalls nicht unwichtig: Die unterschiedlichen Ansichten, was die Mobilisierung anbelangt.

General Saluschni kann nicht öffentlich auf die Kritik antworten – weil er Präsident Selenski unterstellt ist.
Autor: Wolodimir Fessenko Ukrainischer Politikwissenschaftler

«General Saluschni hält eine Massenmobilisierung von gegen einer halben Million Männer für nötig», so der Politologe. Selenski dagegen hat sich öffentlich dagegen ausgesprochen. Zwar nicht gegen die Mobilisierung an sich – doch laut dem Präsidenten fehlen Geld und organisatorische Ressourcen für die gleichzeitige Einberufung so vieler Männer.

Fessenko sagt, der Oberbefehlshaber sei wohl irritiert wegen der Kritik an ihm. «Er kann aber nicht öffentlich antworten, weil er dem Präsidenten unterstellt ist.» Und so schwelt der Konflikt seit längerem.

Saluschni will Posten nicht räumen

Man geht davon aus, dass der Präsident dem Armeechef letzte Woche nahegelegt hat, auf einen anderen Posten zu wechseln. Dieser aber will seinen Platz an der Spitze der Armee nicht verlassen. Saluschni wisse, wie beliebt er sei in der Bevölkerung, so der Politologe. Das sei sozusagen seine Versicherung.

Saluschni mit Selenski und weiteren Männern.
Legende: Das Verhältnis zwischen Oberbefehlshaber Saluschni (links) und Präsident Selenski (rechts) scheint angespannt. Reuters

Dazu kommt, dass die Bevölkerung möchte, dass die beiden wichtigsten Führungsfiguren des Landes gut zusammenarbeiten. Denn niemand hat so hohe Zustimmungsraten wie Selenski und Saluschni. In Zeiten des Krieges bringe die Bevölkerung jenen am meisten Vertrauen entgegen, die mit der Verteidigung des Landes verbunden sind, so Fessenko.

Allmählich wird die Kritik lauter

«Die Leute vertrauen den professionellen Politikern nicht, die Anführer der Opposition sind weit abgeschlagen.» Und auch die Parlamentsabgeordneten hätten an Einfluss und Prestige eingebüsst. Denn die ganze Aufmerksamkeit richte sich auf den Krieg, stellt der Politologe fest.

Wie lange hält der Burgfrieden noch?

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In der Ukraine wurden seit Beginn der versuchten Grossinvasion Russlands am 24. Februar 2022 viele innenpolitische Tätigkeiten eingestellt. Das Parlament arbeitet aus Sicherheitsgründen hinter verschlossenen Türen, statt mehrerer Fernsehkanäle gibt es ein Einheitsformat. Oppositionelle Kanäle existieren noch, aber sie sind nur noch im Internet oder per Satellit zu empfangen.

Auch können keine Wahlen stattfinden, solange das Kriegsrecht gilt. Das alles, so der Politologe Fessenko, sei bisher in der Bevölkerung mehrheitlich auf Zustimmung gestossen: Man wolle Einigkeit und keine politischen Auseinandersetzungen in einer so schwierigen Lage für das Land.

Seit sich die schlechten Nachrichten von der Front häufen und klar wird, dass der Krieg andauern wird, wird an der Führung des Landes aber vermehrt Kritik laut. Auch die Opposition ist aktiv geworden. Die Innenpolitik sei quasi durch den Hintereingang wieder auf den Plan getreten, sagt Fessenko.

Es gebe viel Polemik zum Thema Mobilisierung, soziale und politische Spannungen nähmen zu. Klar ist: Die Führung des Landes steht vor wichtigen Herausforderungen und Weichenstellungen.

«Das Verlangen nach Freiheit ist geblieben»

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Fessenko.
Legende: Politologe Wolodimir Fessenko. srf/Judith Huber

Wächst mit der Perspektive eines längeren Krieges nicht auch die Gefahr, dass die Machthaber versuchen könnten, aus der Ukraine einen autoritären Staat zu machen? «Schauen Sie», sagt der Politologe Fessenko: «Wir haben eine sehr freiheitsliebende Gesellschaft. In den letzten 20 Jahren hatten wir zwei politische Revolutionen, in denen es nicht um wirtschaftliche Belange ging, sondern um Freiheit. Die Leute wollten nicht, dass ein diktatorisches Regime entsteht. Dieses Verlangen nach Freiheit ist geblieben, auch heute.»

Rendez-vous, 5.2.2024, 12:30 Uhr

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