Rund eine Million Menschen haben seit Kriegsbeginn Russland verlassen. Viele, um dem Kriegsdienst in der Ukraine zu entgehen. Andere, weil sie den Angriffskrieg der russischen Regierung kritisiert haben und dadurch ins Visier von Polizei und Geheimdienst gerieten. Einer von ihnen ist Andrej Wolna, ein russischer Unfallchirurg.
Wolna hatte das Glück, dass unter seinen Patienten Leute mit besten Kontakten zu den Strafverfolgungsbehörden waren. Sie warnten ihn vor einer geplanten Verhaftung. In der Folge floh der Chirurg mit seiner Frau und den drei schulpflichtigen Töchtern nach Estland. Doch dort blieb er nicht lange. Heute operiert er in Kiew kriegsverletzte ukrainische Soldaten.
Wolna hilft aus Überzeugung im Militärspital in Kiew. Er sagt: «Diese Menschen wurden durch meine russischen Landsleute verletzt. Das ist eine moralische Belastung für mich.» Medizinisch gesehen treffe er hier als Unfallchirurg auf typische Fälle. Doch er sehe sehr viele Patienten mit sehr schweren und unvorhersehbaren Verletzungen.
97 Prozent der Verletzungen der Soldaten stammen von Explosionen. Die sind weit schlimmer, als Schussverletzungen.
Es ist meine Pflicht, hier zu sein. Hier als Freiwilliger, als Chirurg zu arbeiten und den Ukrainern zu helfen. Gegen die russische Aggression in einem Operations-Saal.
Geschosse aus Körpern ukrainischer Soldaten zu entfernen, das ist der Alltag im Militärspital in Kiew. Laut amerikanischen Schätzungen wurden bisher mehr als Hunderttausend ukrainische Armeeangehörige verwundet. Chirurgen wie Wolna sind deshalb sehr willkommen.
Kampf gegen russische Aggression
Er sei nicht mehr jung, könne nicht mehr mit einem Gewehr gegen Russland kämpfen – aber er sei Chirurg und könne mit seinem Wissen helfen. Wolna ist überzeugt: «Es ist meine Pflicht, hier zu sein. Hier als Freiwilliger, als Chirurg zu arbeiten und den Ukrainern zu helfen. Gegen die russische Aggression in einem Operations-Saal.»
Ich weiss, wie gefährlich es ist, die russische Regierung zu kritisieren. Denn russische Agenten sind überall.
Wolnas Seitenwechsel ist in Kriegszeiten nicht ungefährlich. Zwar fühlt sich der Arzt in Kiew am richtigen Ort. Doch ein Gefühl der Unsicherheit bleibt sein ständiger Begleiter. «Ich weiss, wie gefährlich es ist, die russische Regierung zu kritisieren. Denn russische Agenten sind überall. Das ist nicht nur in meinem Kopf. Es ist ein echtes Problem in Europa.»
Wolna kann nicht verstehen, was mit seien Landsleuten geschehen ist: «Längst nicht alle unterstützen Putin. Aber viele sind gegen die Ukrainer. Es ist ein russischer Nationalismus. Sie verstehen nicht, dass die Ukraine unabhängig ist.»
Putins Propaganda wirke sehr gut, meint der russische Arzt. «Diese Propaganda schaut nur zurück, nicht vorwärts.» Das sei ein enormes Problem für die Zukunft. «Sollte Putin je die Macht abgeben, dann werden Leute ans Ruder kommen, die diesen Krieg wollen», ist Wolna überzeugt.
Zukunft in der Ukraine
Sein Handwerk lernte Wolna in Sibirien, wo er vor allem verunfallte Minenarbeiter behandelte. Seine Familie lebt nach der gemeinsamen Flucht aus Russland in Estland. Dass er derzeit temporär von seinen Liebsten getrennt ist, nimmt der Unfallmediziner in Kauf.
Zurück in sein Heimatland, wo er 60 Jahre lang gelebt hat, will Andrej Wolna nicht mehr. «Es ist eine Tragödie». Nach dem Krieg möchte Wolna mit seiner Familie in der Ukraine leben.