Im Juli kamen in einem Aussenquartier von Neapel drei Menschen ums Leben, 13 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Sie lebten in einer riesigen Siedlung aus Sozialwohnungen, die der Stadt Neapel gehört und die schwer baufällig ist.
Ein Boden gab nach, stürzte in die Tiefe und riss zwei weitere Böden mit sich. Die Stadt Neapel wusste um den schlechten Zustand ihrer Wohnungen, unternahm aber nichts. Und zwei Monate nach dem Unglück wohnen noch immer Leute in dieser Siedlung.
Man hört den Leuten hier nicht zu, man versteht sie nicht, aber man urteilt über sie.
«Vele» (ital. für Segel) heisst die riesige Siedlung aus Sozialwohnungen an der Peripherie Neapels. Die Silhouette der Gebäude erinnert vage an ein Segel. Rosario wohnte viele Jahre hier und erinnert sich an den Abend im Juli, als Teile der Siedlung einstürzten. Schreie habe er gehört, dann die Ambulanzen. Und er habe die drei Toten im Schutt gesehen und die verletzten Kinder. Jenen Teil der Siedlung, in dem der Boden nachgab, hat die Stadt Neapel, die Eigentümerin, kurz nach dem Unglück geräumt.
Keine andere Wohnung angeboten
Die Stadt hat den Leuten keine neuen Wohnungen angeboten, sondern überweist ihnen monatlich einen Geldbetrag. Doch das nützt nichts, sagt Rosario: «Ohne festen Arbeitsvertrag und ohne festen Lohn vermietet dir doch keiner eine neue Wohnung.» Seit dem Einsturz lebt er in einem Lieferwagen. Wie Rosario geht es auch anderen. Sie leben nun in irgendwelchen Provisorien.
Das Quartier Scampia, die Gegend um die Vele, hat einen schlechten Ruf. Dies, weil sich die neapolitanische Mafia eingenistet hat und weil viele Jugendliche die Schule vorzeitig abbrechen. Viele sind arbeitslos und leben in baufälligen Sozialwohnungen.
Die Stadt Neapel, die Eigentümerin, weiss seit Jahren, dass diese Siedlung akut einsturzgefährdet ist. Das belegen Dokumente. Bruno wohnt noch in einem anderen Teil der Siedlung. Er lebt mit seiner Familie seit dem Vorfall in Angst: «Wir haben keine Wahl. Entweder wir bleiben in den einsturzgefährdeten Wohnungen oder wir verlieren unser Dach über dem Kopf», sagt der Mann, der ein Tricot des FC Napoli trägt.
«Eigentlich müsste man alles abbrechen»
Auch Emanuele Cerullo lebte als Kind in den Vele. Schliesslich konnten seine Eltern ausziehen. Emanuele schaffte es, zu studieren: «Ich hatte die Wahl zwischen einer Pistole und einem Buch», sagt der 30-Jährige, der das Buch wählte und heute als Lehrer arbeitet und Gedichte schreibt. Mit der Pistole meint er: die Mafia, die Camorra, die zwischen den zerfallenden Sozialwohnungen Nachwuchs rekrutiert.
Auch das wisse der Staat, aber er schaue lieber weg: «Man hört den Leuten hier nicht zu, man versteht sie nicht, aber man urteilt über sie», sagt Emanuele. Die Ränder der italienischen Gesellschaft sind in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen. Und ein bedeutender Teil der italienischen Mittelschicht kämpft mit wirtschaftlichen Problemen.
Eigentlich müsste man alles sofort abbrechen. Doch bevor man abbricht, müsste man den Leuten ein neues Zuhause geben.
Einer davon ist Sergio. Er verlor 2008, in der grossen Wirtschaftskrise, Arbeit und Wohnung und musste mit seiner Familie in die Vele ziehen. Seither lebt er in dieser Siedlung, die vergammelt und verrostet. Der Beton zerbröselt und die Böden brechen durch: «Eigentlich müsste man alles sofort abbrechen. Doch bevor man abbricht, müsste man den Leuten ein neues Zuhause geben», so Sergio.
Das ist nicht geschehen. Der Stadtpräsident von Neapel will in den nächsten Tagen weitere Teile der Siedlung räumen – ohne jedoch Alternativen zu bieten.