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Stadt mit düsterem Geheimnis Thunder Bay: Wo Indigene weniger wert sind als Weisse

In der kanadischen Stadt Thunder Bay sterben viele junge Indigene unter ungeklärten Umständen – viele wurden tot in den Flüssen gefunden. Thunder Bay, eine Stadt, die einen rassistischen Ruf hat und eine Polizei, die kein echtes Interesse zu haben scheint, die mysteriösen Todesfälle aufzuklären.

Jethro Anderson verschwindet an einem Tag im Oktober im Jahr 2000, kommt einfach nicht mehr nach Hause. Er stammt aus einer First Nation, aus einem abgelegenen Reservat der Ureinwohner. In der kanadischen Stadt Thunder Bay besucht der 15-Jährige die High School, lebt bei seiner Tante Dora. Die tut das Naheliegende: Sie sucht Hilfe bei der Polizei, bei der «Thunder Bay Police».

Die Journalistin Tanya Talaga, selbst eine Indigene, hat Jethros Geschichte minutiös recherchiert: «Die Polizei sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen. Der Junge mache wohl einfach Party, so wie alle indigenen Kids. Dann hängte der Polizist auf.» Dora sucht auf eigene Faust, fährt mit dem Familienauto stundenlang durch die Stadt. Sie informiert die Mutter des Teenagers, die mit Mitgliedern ihrer weit abgelegenen Gemeinschaft, nach Thunder Bay fliegen.

Sechshundert Kilometer legten sie zurück, um den Jungen in der Stadt zu suchen. Die Polizei aber habe erst nach sechs Tagen mit der Suche begonnen, sagt Talaga. Am 11. November wird Jethro gefunden, tot im eiskalten Kaministiquia River im Süden von Thunder Bay.

Ein Fluss ist auf dem Bild zu sehen. Über ihn führt eine Auto-Brücke.
Legende: Der Kaministiquia River nahe der Mündung in den Lake Superior: In diesem Fluss wurde Jethro Anderson gefunden. SRF / Andrea Christen

Als Dora ihren toten Neffen betrachtet, fallen ihr eine Wunde am Kopf auf und runde Abdrücke im Gesicht, so als habe dort jemand Zigaretten ausgedrückt. Die Polizei aber kommt rasch zum Schluss: Der Tod des Teenagers sei ein Unfall gewesen, er sei, ohne Fremdeinwirkung im Fluss ertrunken. Damit ist ein Muster vorgezeichnet, das sich in den kommenden Jahren mehrfach wiederholt.

«Murder Bay»

Thunder Bay liegt inmitten einer idyllischen Natur: In der Provinz Ontario, am nordwestlichen Ende des Lake Superiors, am grössten Süsswassersee der Welt. Mehrere Flüsse winden sich durch die Stadt, eine langgezogene Felsformation, der «schlafende Gigant», liegt im See und dominiert den Horizont. Die Stadt hat über 100'000 Einwohner – und ist die einzige Stadt weit und breit. Die Provinzhauptstadt Toronto ist 900 Kilometer entfernt.

Eine idyllische Oberfläche, darunter aber liegt etwas Düsteres: Rassismus und Gewalt. Thunder Bay hat seit Jahren die höchste Mordrate in Kanada. Die Stadt hat sich unrühmliche Beinamen eingehandelt wie «Murder Bay».

Ein grosser Berg, thront vor einem See
Legende: Der «schlafende Riese».: Schläft er oder schaut er angesichts der vielen Toten weg? Die Felsformation ist das Wahrzeichen von Thunder Bay. SRF / Andrea Christen

Für viele Indigene in Ontario führt kaum ein Weg an Thunder Bay vorbei: Als der kanadische Staat nach Westen expandierte, schloss er mit den Ureinwohnern, den First Nations, Verträge ab, um an das ressourcenreiche Land zu kommen. Die Ureinwohner wurden in kleine Reservate gedrängt, die bis heute bestehen. In den Weiten von Nord-Ontario sind sie meistens nur mit dem Flugzeug zu erreichen.

Trauma ohne Ende

Die «Residential Schools», die berüchtigten Umerziehungsschulen für indigene Kinder, haben dort deutliche Spuren hinterlassen: Ganze Generationen kamen traumatisiert aus den Internaten zurück, ertränkten den Schmerz mit Alkohol oder betäubten ihn mit Drogen.  

Die Schüler, die heute in Thunder Bay zur Schule gehen, sind die Nachkommen dieser «Residential School»-Generationen. Sie kommen häufig aus schwierigen, zerrütten Verhältnissen. In den ärmlichen, weit abgelegenen Reservaten in Nord-Ontario fehlt es zudem an Wohnraum, an Gesundheitsversorgung, an Arbeitsplätzen, Geschäften und an Schulbildung.

Wer all diese Dinge sucht, findet sie in Thunder Bay. Auch den Teenagern, die eine High School besuchen möchten, bleibt keine andere Wahl: Ohne Eltern fliegen sie in die Stadt, leben dort häufig bei Gastfamilien.

Die Stadt Thunder Bay von oben. Im Hintergrund kann man den See sehen.
Legende: Thunder Bay hat 107'909 Einwohner, ist die einzige Stadt weit und breit und bildet somit den Nabel der Region. imago images

Für die Teenager ist Thunder Bay ein aufregender, überwältigender Ort - und ein beängstigender. Indigene berichten von alltäglichem Rassismus. «Unseren Jugendlichen wird aus vorbeifahrenden Autos Abfall angeworfen, in den Geschäften werden sie auf Schritt und Tritt vom Sicherheitspersonal überwacht», sagt Tanya Talaga. Und in Thunder Bay kommen die Schülerinnen und Schüler in Kontakt mit Alkohol und Drogen.

So wie Curran Strang. Der 18-Jährige betrinkt sich häufig, kriegt Probleme in der Schule. 2005 verschwindet auch er. Freunde erklären später, er habe sich betrunken, habe an einem Flussufer das Bewusstsein verloren. Vier Tage später wird seine Leiche im Fluss gefunden, dort wo er häufig trank. Die Polizei kommt wieder rasch zu einem Schluss: Es sei ein Unfall gewesen.

Das Schlimmste für die Familien ist die Ungewissheit, nicht zu wissen, was ihren Kindern zugestossen ist.
Autor: Sam Achneepineskum «Elder» seines Volkes

Curran Strang ist nicht der Letzte. Bis 2011 verschwinden drei weitere indigene Jugendliche, alle werden tot in den Flüssen gefunden. «Viele dieser Kids sind in Gemeinschaften aufgewachsen, die an einem Fluss oder einem See liegen», sagt Sam Achneepineskum. «Ich habe nie gehört, dass dort jemand ertrunken wäre. Und hier fallen sie ständig in die Flüsse und ertrinken? Da kratzt man sich am Kopf und fragt sich, wie das möglich sein soll.»

Ein Fluss, der vor einem grossen Felsen durchfliesst
Legende: Der Name des Flusses Kaministiquia ist aus der Sprache der Ojibwe-Ureinwohner abgeleitet und bedeutet «mit Inseln». SRF/ Andrea Christen

Achneepineskum ist ein geachteter «Elder» seines Volkes, ein besonders weiser Mann, eine bekannte Figur unter den Indigenen in Thunder Bay. Das Schlimmste für die Familien sei die Ungewissheit, nicht zu wissen, was ihren Kindern zugestossen sei, sagt Achneepineskum, eine eindrückliche Figur mit einem langen, weissen Kinnbart.

Vorwürfe an die Polizei

Journalistin Tanya Talaga schreibt ein Buch über die fünf toten Schüler, rekonstruiert so gut wie möglich ihre letzten Stunden, schreibt über das Versagen der Polizei. Und sie beschreibt auch über zwei weitere Todesfälle: eine junge indigene, die betrunken zu ihrer Gastfamilie gebracht wird. Am nächsten Morgen ist sie tot.

Ebenfalls schreibt sie über den Fall eins Jungen, der urplötzlich in der Küche seiner Mutter kollabiert und stirbt. Damit sind es sieben tote indigene Jugendliche in rund zehn Jahren. Alle kamen, um in Thunder Bay eine High School zu besuchen. Alle fanden den Tod.

Indigene Leben sind weniger wert als weisse.
Autor: Julian Falconer Menschenrechtsanwalt

Die Polizei habe in diesen Fällen schlampig und halbherzig ermittelt, sagt Talaga. «Ermittlungen wurden nicht zu Ende geführt, Hinweisen wurde nicht nachgegangen, Einvernahmen wurden nicht gemacht. Es ist krass, wie jede echte Anstrengung fehlte, um herauszufinden, wer diese Kids tötete.» Talaga spricht aus, was viele denken: «Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass es in manchen Fällen Mord war, wenn nicht in den meisten.»

Der Fall der sieben toten Jugendlichen habe eines deutlich gezeigt, sagt Julian Falconer, in Kanada ein bekannter Menschenrechtsanwalt: «Indigene Leben sind weniger wert als weisse». Wären in Kanada sieben weisse Jugendliche unter mysteriösen Umständen gestorben, so hätte dies zu einer Untersuchungskommission geführt, an höchster Stelle hätten sich Politiker für die Aufklärung eingesetzt, ist er sich sicher.

Falconer ist 2012 der Anwalt der «Nishnawbe Aski Nation», eine politische Organisation, die die First Nations in Nord-Ontario vertritt. Mit der Hilfe von Falconer erreicht sie eine offizielle Untersuchung aller sieben Todesfälle. Das Resultat: Drei der Jugendlichen seien durch Unfälle zu Tode gekommen, in vier Fällen bleibe unbestimmt, wie die jungen Indigenen ihr Leben verloren.

Vernichtender Bericht über die Polizeiarbeit

Dann, 2018, folgt ein unabhängiger Bericht über die Arbeit der «Thunder Bay Police». Er trägt den Titel «Broken Trust», also «zerbrochenes Vertrauen». Er zeichnet das Bild einer inkompetenten, rassistischen Polizei, einer Polizei, die den Tod von Indigenen unzureichend untersucht, die von rassistischen Stereotypen ausgeht und zu rasch zum Schluss komme, Indigene würden betrunken in die Flüsse fallen.

Es ist genau die Polizei, die die Mächtigen in Thunder Bay wollen: Eine Polizei, die vor allem die Weissen beschützt.
Autor: Julian Falconer Menschenrechtsanwalt

Zwar seien nicht alle Polizisten Rassisten, die Polizei aber sei «institutionell rassistisch». Drei Jahre nach diesem Bericht kommt Anwalt Falconer zu einem ernüchternden Schluss: «Die Thunder Bay Police wird sich nicht ändern. Warum? Weil es genau die Polizei ist, die die Mächtigen in Thunder Bay wollen: Eine Polizei, die vor allem die Weissen beschützt, für die weisse Leben mehr sind als indigene. Die «Thunder Bay Police» sollte vollständig aufgelöst werden.»

Falconer betont, es gebe in Thunder Bay viele gute Menschen. Doch wer ihm zuhört, bekommt den Eindruck einer Stadt, die ihr tiefsitzendes Rassismusproblem nicht anerkennen will, einer weit abgelegenen Stadt, die sich von der Aussenwelt nichts sagen lässt, eigene Spielregeln hat. Was sagen die Verantwortlichen dazu, etwa der Bürgermeister? Auch nach zahlreichen E-Mails und Telefonanrufen kam kein Interview zustande.

Kleiner Hoffnungsschimmer

Nicht nur in Thunder Bay gibt es Rassismus und Gewalt gegen Indigene, sondern auch anderswo in Kanada. Indigene Frauen und Mädchen werden besonders häufig Opfer von Gewaltverbrechen.

Doch gewisse Dinge bewegen sich auch: Als die sieben Todesfälle neu untersucht wurden, resultierten daraus auch 145 Vorschläge – Vorschläge etwa dafür, wie man Thunder Bay für indigene Jugendliche sicherer machen könnte. Auch die Stadt erklärte, sie wolle ihren Teil beitragen. Auf ihrer Internetseite legt sie dar, wie weit sie bei der Umsetzung ist.

Doch Gewalt und Rassismus gibt es noch immer. Noch während die Untersuchung der sieben Todesfälle lief, wurde eine Leiche in einem Fluss gefunden, dieses Mal jene von einem 41-jährigen Indigenen. Später wurde bekannt, dass jemand die Bankkarte des Toten benutzt hatte. Doch wieder stellte die Polizei nach kurzer Zeit fest: Unfalltod. Keine Fremdeinwirkung.

Sieben gefallene Federn

Oder da ist der Fall einer indigenen Frau, die 2017 mit ihrer Schwester die Strasse entlanglief. «Ein Mann warf ihr aus einem fahrenden Auto eine neun Kilo schwere Anhängerkupplung in den Bauch», erzählt Tanya Talaga.

Die Frau sei langsam und qualvoll gestorben. «Ich habe eine erwischt!», habe der Täter gerufen. Das sei blanker Rassismus, sagt Talaga. Ihr Buch «Seven Fallen Feathers» wird zum preisgekrönten Bestseller – und macht ganz Kanada aufmerksam auf die Zustände in Thunder Bay.

Ewige Ungewissheit

Derzeit wird eine ganze Reihe von indigenen Todesfällen in Thunder Bay neu untersucht, darunter auch einige der sieben Todesfälle, die hier im Zentrum stehen. Journalistin Tanya Talaga und andere erhoffen sich nicht viel davon – zu erschüttert ist das Vertrauen in die Polizei.

Ich werde nie erfahren, was meinem Enkel zugestossen ist.
Autor: Sam Achneepineskum «Elder» seines Volkes

Zurück bleiben die Familien mit ihren unbeantworteten Fragen. Elder Sam Achneepineskum weiss, wie sich das anfühlt. Denn 2015 trifft es auch ihn: Sein Enkel wird in Thunder Bay tot im Schnee gefunden.

Die Feuerwehrleute, die als erste beim Leichnam sind, glauben, Zeichen eines Kampfes zu erkennen. Die Polizei aber kommt zum Schluss: Es war ein Unfall. Tod durch Unterkühlung. «Es gibt eine offizielle Version davon, aber ich werde wohl nie erfahren, was ihm zugestossen ist», sagt Achneepineskum. Mit dieser Ungewissheit müssten die Familien der toten Jugendlichen jeden Tag leben.

SRF 4 News, 27.12.21, 07.45 Uhr

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