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«State of the Union» Die Rede, die Biden anders halten wollte

Sie sitzt in der Zuschauerloge, direkt neben Jill Biden, und wird von der First Lady mit einer herzlichen Umarmung bedacht: Oksana Markarova, die Botschafterin der Ukraine in den USA. Es ist üblich, dass die First Lady Gäste einlädt, die mit der «State of the Union» in Verbindung stehen. Der Krieg in der Ukraine steht mit dieser wichtigsten Rede eines amerikanischen Präsidenten nicht nur in Verbindung. Der Krieg zwang die Strategen im Westflügel des Weissen Hauses, die Rede mehrmals umzuschreiben.

Joe Biden hält seine Rede an diesem Abend nicht nur als Präsident der USA. Er hält sie auch als Anführer der freien Welt, auf den alle Augen gerichtet sind. Und so beginnt der 46. Präsident der USA, Joe Biden Jr., seine Rede zur Lage der USA in einem Land, das zu dieser Stunde nicht weiss, was in der nächsten sein wird. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hatte Biden noch am Nachmittag gebeten, eine deutliche Botschaft zu senden. Biden sendet sie wohl nicht so, wie es sich Selenski gewünscht hätte.

Rede eines erfahrenen Transatlantikers

Der Präsident der Vereinigten Staaten hebt die Schuld Putins hervor und nennt ihn einen Diktator. Er hebt die Wichtigkeit von Bündnissen hervor (und nennt dabei «sogar die Schweiz», die sich den Sanktionen angeschlossen habe), und von Diplomatie. Und er hebt die Wichtigkeit von Einigkeit angesichts von Tyrannei und Autoritarismus hervor, im Innern wie zwischen Bündnispartnern.

Es ist eine sehr traditionelle Rede eines erfahrenen Transatlantikers, und das hat in Tagen wie diesen einen hohen Wert. Und doch erklärt Biden zu wenig, weshalb dieser Krieg auch die Sicherheit der Amerikanerinnen und Amerikaner betrifft. Er erklärt zu wenig, weshalb es wichtig ist, die steigenden Benzinpreise zu (er-)tragen.

Und genau das ist Bidens Problem. Seine Administration hat in der Ausarbeitung der Sanktionen und im Zusammenführen des Westens enorm viel geleistet. Aber die sicht- und spürbaren Folgen sprechen eine andere Sprache: in der Ukraine fallen trotzdem die Bomben. An den Zapfsäulen steigen die Benzinpreise auch aufgrund der Sanktionen. Und die Inflation frisst immer tiefere Löcher ins sowieso schon knappe Portemonnaie. Wenigstens konnte das Masken-Obligatorium in Washington just an diesem Tag aufgehoben werden, sodass Biden seine Rede ohne Maske vor einem maskenfreien Publikum halten konnte.

Optimismus als rares Gut

Auch innenpolitisch ist dies Bidens grosse Herausforderung, und seine erste «State of the Union», in der er alles anzusprechen versuchte, was er an Ideen und Initiativen und Erfolgen hat, wird dies nicht ändern.

Das Problem von Joe Biden ist an diesem Abend deutlich sichtbar. Auf der internationalen Bühne sind die Reihen geschlossener als im Innern. Sogar der zu keinem innenpolitischen Kompromiss bereite Minderheitsführer der Republikaner im Repräsentantenhaus, Kevin McCarthy, trägt einen blaugelben Sticker am Anzug. Doch in der Innenpolitik fehlen in seiner Rede die konkreten Lösungen für die Amerikanerinnen und Amerikaner, welche sich vor der steigenden Inflation fürchten.

Eine der gewichtigsten Aufgabe eines Präsidenten der USA ist es, den Amerikanerinnen und Amerikanern Optimismus zu verleihen. Und auch wenn der Präsident an diesem Abend eine solide Rede ablieferte: Angesichts der Realität dieser Tage fällt dies schwer.

Pascal Weber

USA-Korrespondent

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Pascal Weber arbeitet seit 1999 für SRF. Als Redaktor und Produzent war er zunächst in der Sportredaktion tätig, danach bei «10vor10». Von 2010 bis 2021 war er als Korrespondent im Nahen Osten. Er lebte zuerst in Tel Aviv, dann lange Jahre in Kairo und Beirut. Nun arbeitet er für SRF in Washington.

SRF 4 News, 2.3.2022, 04.00 Uhr

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