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Stillstand in der Ukraine Blutiges Patt: In der Ukraine droht ein langer Abnützungskrieg

Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Laut dem ukrainischen Innenminister soll das russische Militär in diesen Tagen so viele ukrainische Ortschaften beschossen haben wie seit Jahresbeginn nicht mehr. Dennoch: Fortschritte machen die Russen am Boden kaum und auch die ukrainische Sommeroffensive scheint an Grenzen zu stossen. Der ukrainische Armeechef spricht in einem Beitrag für die britische Zeitschrift «The Economist» von einem Stellungskrieg.

David Nauer, SRF-Korrespondent für die Ukraine, über den Stillstand auf dem Schlachtfeld – und darüber, ob ein Waffenstillstand oder sogar Friedensverhandlungen denkbar sind.

David Nauer

Ukraine- und Russland-Korrespondent

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David Nauer ist Ukraine- und Russland-Korrespondent bei SRF TV. Von 2016 bis 2021 war er als Radio-Korrespondent in Russland tätig. Zuvor war er Russland-Korrespondent des «Tages-Anzeigers». Nauer reist seit Beginn des russischen Angriffskriegs regelmässig in die Ukraine.

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SRF News: Weshalb macht keine Seite mehr grössere Fortschritte?

David Nauer: Das hat damit zu tun, wie die beiden Armeen an der Front aufgestellt sind. Beide Seiten haben sich eingegraben, haben also massive Verteidigungsanlagen gebaut. Dazu kommt: Beide Seiten haben ständig Drohnen in der Luft, das heisst, sie sehen jede Bewegung des Gegners.

All das macht einen erfolgreichen Grossangriff so gut wie unmöglich. Sobald beispielsweise eine grössere Panzerkolonne losfährt, sieht das die Gegenseite und zerstört die Panzer mit Artillerie. Das mussten die Ukrainer bei ihrer Offensive erleben und so ist es in den letzten Wochen auch den Russen ergangen, als sie im Osten angegriffen haben. Auf Videos von Drohnen sieht man, wie sich zehn, fünfzehn russische Panzer fortbewegen und einer nach dem anderen ausgeschaltet wird.

Längerfristig könnte Russland Vorteile haben

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Ukrainische Soldaten am dem Fluss Dnipro, nahe der Front bei Cherson (14 Oktober).
Legende: Ukrainische Soldaten am dem Fluss Dnipro, nahe der Front bei Cherson (14 Oktober). Keystone/AP/Alex Babenko

In der Ukraine hat sich also ein verlustreicher Abnützungskrieg entfaltet. Im Vorteil ist dabei, wer mehr Kriegsgerät und mehr Soldaten hat. Für David Nauer scheinen die Kräfteverhältnisse auf dem Schlachtfeld derzeit relativ ausgeglichen. «Beide Seiten können die Front halten, aber den Gegner nicht überwältigen.» Längerfristig habe Russland aber wohl einige Vorteile: Schliesslich hat Russland etwa drei, vier Mal mehr Einwohner als die Ukraine – und entsprechend mehr potenzielle Soldaten.

«Der Kreml scheint auch keine Rücksicht auf Verluste zu nehmen, es sind ja schon zehntausende russische Soldaten gefallen und Russland führt seinen Angriffskrieg dennoch ungerührt fort», schätzt Nauer. Zudem könnten die russischen Rüstungsfabriken im Hinterland im Ural und Sibirien ungestört Panzer und anderes Kriegsgerät bauen. Demgegenüber seien die ukrainischen Fabriken grösstenteils zerstört worden. «Und deswegen ist die Ukraine auf westliche Waffenhilfe angewiesen», schliesst Nauer.

Im Westen scheint die Bereitschaft abzunehmen, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen. In den USA weigern sich die Republikaner, weitere Waffen zu liefern. In Europa sind es Polen und neu auch die Slowakei, die nicht mehr liefern wollen. Mit welchen Folgen?

Diese Tendenz ist sehr besorgniserregend für die Ukraine, weil sie weitgehend abhängig ist von westlicher Waffenhilfe. Bisher haben Europäer und Amerikaner gerade mal so viel geliefert, dass die Ukraine den Krieg nicht verliert. Wenn man nun in Washington, Berlin und Brüssel sagt: Wir wollen, dass die Ukraine den Krieg gewinnt – dann müsste mehr geliefert werden als bisher. Die politische Stimmung deutet aber derzeit auf das Gegenteil hin: Die Bereitschaft des Westens, Waffen zu liefern, nimmt ab.

US-Präsident Joe Biden und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski.
Legende: US-Präsident Joe Biden stellte sich wiederholt unverbrüchlich an die Seite der Ukraine. Aber nicht nur in den USA machen sich Ermüdungserscheinungen breit. Keystone/AP/Evan Vucci

Ich denke deswegen, ein realistisches, wenn auch grausames Szenario ist, dass sich der Krieg noch lange hinziehen wird, dass sich die Front kaum bewegt und beide Armeen versuchen, den Gegner zu dezimieren. Bis irgendwann eine Seite keine Kanonen und Soldaten mehr hat.

Ist es in dieser Situation denkbar, dass im Hintergrund Gespräche für einen Waffenstillstand oder sogar Friedensverhandlungen laufen?

Im Moment sehe ich das nicht. Die ukrainische Position ist nach wie vor, dass die Ukraine jeden Quadratmeter Land zurückerobern will. In Kiew wird argumentiert, dass jede Pause im Krieg von Russland nur dazu genützt werde, um aufzurüsten und dann erneut anzugreifen. Das ist eine durchaus plausible Argumentation, denn in Russland ist keinerlei Kompromissbereitschaft zu erkennen.

Die Ukrainer kämpfen um ihr Überleben als eigenständige Nation.

Es gibt nach wie vor gewichtige Stimmen in Moskau, die sagen, Kriegsziel sei die Vernichtung des unabhängigen ukrainischen Staats. Mit anderen Worten: Die Ukrainer kämpfen um ihr Überleben als eigenständige Nation, die Russen wollen diese Nation unterwerfen. Das ist die Ausgangslage dieses Krieges. Und dabei gibt es keinerlei Platz für einen Kompromiss – und im Moment auch nicht für Friedensgespräche.

Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.

Echo der Zeit, 02.11.2023, 18 Uhr ; 

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