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Streit um Rechtsstaatlichkeit Ungarn und Polen blitzen beim Europäischen Gerichtshof ab

  • Verstösst ein EU-Land gegen Grundwerte wie Demokratie, den Schutz von Minderheitsrechten, oder ist dessen Justizsystem nicht unabhängig von der Politik, dann können diesem Mitgliedsland EU-Gelder gekürzt oder ganz gestrichen werden. 
  • Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat diese neue Regelung für rechtens erklärt.
  • Die Richter in Luxemburg haben Klagen von Ungarn und Polen abgewiesen.

Damit machten sie den Weg frei für die Anwendung des sogenannten Rechtsstaatsmechanismus. Konkret geht es um eine «Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit», die seit Anfang 2021 in Kraft ist. Die EU-Kommission wollte das Gesetz aber nicht anwenden, bis nicht die obersten Richter der EU dieses für rechtens erklärten.

Die Verordnung soll dafür sorgen, dass Verstösse gegen rechtsstaatliche Prinzipien wie die Gewaltenteilung nicht mehr ungestraft bleiben, wenn dadurch ein Missbrauch von EU-Geldern in einem Land droht. Polen und Ungarn sehen sich im Fokus und klagten deshalb vor dem EuGH. Ironischerweise klagten sie vor jenem Richtergremium, dessen Urteile sie in anderem Zusammenhang in Abrede stellen.

SRF-Korrespondent Michael Rauchenstein schätzt neue Regelung ein

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«Das heutige Urteil aus Luxemburg ist ein Erfolg für das Europäische Parlament. Seit Jahren sucht das Parlament Wege, um Verstösse gegen Rechtsstaatlichkeitsprinzipien sanktionieren zu können. Der Druck auf Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen steigt, den Mechanismus so schnell wie möglich anzuwenden. Der Mechanismus ist eigentlich seit Januar 2021 in Kraft, wegen politischen Mauscheleien unter den Staats- und Regierungschefs und Chefinnen wollte von der Leyen aber zuerst das Urteil des Europäischen Gerichtshofs abwarten.

Sollte es die Kommissionspräsidentin ernst meinen mit ihren Aussagen zu den Rechtsstaatsprinzipien und einer Union der Werte, müsste sie jetzt handeln. Ursula von der Leyen hat allerdings in der Vergangenheit gezeigt, dass sie sich eher von den Mitgliedstaaten als vom Parlament unter Druck setzen lässt. Ungarn und Polen werden wohl das heutige Urteil nicht einfach so akzeptieren. Der Druck auf die Kommissionspräsidentin bleibt also bestehen.»

Blockierte Auszahlungen an Polen und Ungarn

Der Rechtsstaatsmechanismus wurde im Sommer 2020 von den Staats- und Regierungschefs im Grundsatz beschlossen, als diese das EU-Budget und den riesigen Corona-Wiederaufbau-Fonds beschlossen.

Polen und Ungarn stellten sich lange quer, gaben schliesslich aber nach, nachdem beide Ländern die Zusage erhielten, dass sie das neue Instrument den Richtern des EuGH zur Beurteilung vorlegen können.

Die EU-Kommission blockierte bisher alle Auszahlungen an Polen und Ungarn aus dem Wiederaufbau-Fonds.

«Jeder Fall wird eingehend geprüft»

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat nach dem Rechtsstaats-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) Erwartungen nach baldigen Strafen gegen Ungarn oder Polen gedämpft. Die deutsche Politikerin unterstrich in einer ersten Stellungnahme in Brüssel ihre Entschlossenheit zum Schutz des EU-Haushalts.

Ihre Behörde werde nun erst einmal gründlich die Begründung des Urteils und mögliche Auswirkungen analysieren. In den kommenden Wochen werde man dann die Leitlinien zur Anwendung des Mechanismus beschliessen.

Von der Leyen betonte, die Kommission habe seit Inkrafttreten der Verordnung vor einem Jahr die Lage in allen EU-Staaten beobachtet. Jeder Fall werde eingehend geprüft. «Wenn die Voraussetzungen der Verordnung erfüllt sind, werden wir entschlossen handeln.» Sie habe versprochen, dass kein Fall verloren gehen werde – und dieses Versprechen auch gehalten.

Reaktion aufs Urteil: Ungarn macht Gerichtshof schwere Vorwürfe

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Der Europäische Gerichtshofs (EuGH) habe einen «politisch motivierten Spruch» gefällt, heisst es in einer ersten Reaktion aus Ungarn. Dies, weil Ungarn jüngst ein Gesetz zum Kindesschutz in Kraft gesetzt habe, schreibt Justizministerin Judit Varga im Kurznachrichtendienst Twitter. «Die Entscheidung ist ein lebender Beweis dafür, wie Brüssel seine Macht missbraucht.»

Varga spielte auf ein vergangenes Jahr verabschiedetes Gesetz an, das Kinder und Jugendliche in Ungarn vor bestimmten Inhalten und Darstellungen zur Sexualität schützen soll. Kritiker sehen darin das Bestreben, homosexuelle und transsexuelle Menschen auszugrenzen und Jugendliche von Informationen zu diesen Themen abzuschneiden. Die EU hatte deswegen ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Der Vorgang steht in keinem Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsmechanismus.

Ob und wie schnell nun Gelder gekürzt werden, ist also noch unklar. Hinzu kommen politische Erwägungen: Polen liess zuletzt vorsichtige Signale einer Annäherung an Brüssel erkennen.

In Ungarn steht Anfang April die Parlamentswahl an. Sollte die EU-Kommission zuvor den Rechtsstaatsmechanismus auslösen, könnte dies als Einmischung in den Wahlkampf verstanden werden.

Reaktion aufs Urteil: Polen sieht Einmischung in Freiheitsrechte

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Polen hat das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum neuen Rechtsstaatsmechanismus der EU als Versuch kritisiert, die Mitgliedsländer um ihre Freiheit zu bringen.

Die EU wandele sich von einem Raum der Freiheit zu einem Raum, wo man rechtswidrig Gewalt anwenden könne, um den Mitgliedsstaaten die Freiheit zu nehmen und ihre Souveränität einzuschränken, sagte Justizminister Zbigniew Ziobro in Warschau. «Es geht hier um brutale Macht und ihren Transfer auf diejenigen, die unter dem Vorwand der Rechtsstaatlichkeit diese Macht auf Kosten der Mitgliedsstaaten ausüben wollen.»

SRF 4 News, 16.02.2022, 11:00 Uhr ; 

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