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Taurus-Abhöraffäre Putin und der Besuch im Schlafzimmer von Olaf Scholz

Der Beruf des Agenten ist ausgesprochen vielfältig und variantenreich. Manchmal fliesst Blut, es fallen Schüsse. Es gibt aber auch subtilere Methoden. Einige verschobene Gegenstände im Schlafzimmer zum Beispiel. Oder im Wohnzimmer. Hauptsache Intimsphäre. Das Opfer soll merken: Da war jemand, ich bin nicht sicher. Man ist mir auf den Fersen.  

Nichts anderes ist die Ton-Aufnahme eines Gesprächs deutscher Offiziere über den möglichen Einsatz des Taurus-Marschflugkörpers in der Ukraine. Der Putin-treue Fernsehsender «Russia Today» veröffentlichte am Freitag den Mitschnitt des Gesprächs. Über eine halbe Stunde lang diskutieren die Offiziere, wie es möglich wäre, den Taurus in der Ukraine einzusetzen, ohne dass deutsche Soldaten tatsächlich im Land sein müssten. Sie erläutern technische Details, sie fachsimpeln. In Berlin geht man davon aus, dass die Aufzeichnung echt ist, dass das Gespräch tatsächlich so stattgefunden hat. Das Fazit der Bundeswehr-Experten: Ja, man könnte die Ukraine tatsächlich von Deutschland aus unterstützen.  

Hat Scholz die Wahrheit gesagt?

Öffentlich behauptete Kanzler Scholz immer das Gegenteil. Der Druck der Opposition und auch aus den eigenen Reihen wurde in letzter Zeit immer grösser, der Ukraine diese schlagkräftige Waffe zu liefern. Doch Scholz entgegnete immer: Der Taurus müsse vor Ort programmiert werden, es gehe nicht aus der Ferne. Er will die Kontrolle, die Zielsteuerung der Waffe nicht aus der Hand geben – schliesslich kann das Geschoss Orte in 500 Kilometern Entfernung angreifen. Es würde bis zum Kreml reichen. Was natürlich eine unvorstellbare Eskalation wäre. Einige sprechen in diesem Fall von einem «3. Weltkrieg».  

Nun steht der Kanzler im Verdacht, in dieser Sache nicht die Wahrheit gesagt zu haben, die Opposition spricht schon von einem möglichen Untersuchungsausschuss. Nach der Veröffentlichung des Mitschnitts ist der Kanzler geschwächt. Und das Vertrauen in Scholz könnte bei vielen noch mehr schwinden – bei jenen, die Scholz sowieso nicht trauen, ihm Zögerlichkeit vorwerfen, fehlende Entschlusskraft. Lügen sogar. Dabei ist der Einsatz einer solchen Waffe nicht nur eine technische Entscheidung, sondern auch eine politische. Die Experten liefern die Grundlagen, die Fakten ins Kanzleramt – den Befehl geben müsste Scholz unter Einbezug aller Faktoren. Der militärischen, politischen und geostrategischen Erwägungen. Und es öffentlich auch so begründen. 

In Intimsphäre der deutschen Politik vorgedrungen

Ob der Mitschnitt echt ist oder eine Fälschung – darauf kommt es schon fast nicht mehr an. Der Schaden in Form des Vertrauensverlustes ist angerichtet. In einer Studie der Bertelsmann Stiftung, über die das deutsche Magazin «Der Spiegel» berichtet, geben 30 Prozent der Befragten an, sie hätten das Vertrauen verloren, Politik und Medien würden heimlich zusammenarbeiten. 30 Prozent – zehn Prozent mehr als noch vor einem Jahr. 

Die Wirkung also ist entfaltet – Spione haben es offenbar geschafft, in die Intimsphäre der deutschen Politik einzudringen, den Videocall der Offiziere abzuhören. Oder, falls es doch eine Fälschung ist, den Eindruck des Eindringens, der Kontrolle über politische Prozesse und Entscheidungsfindungen, zu erwecken. Die Botschaft: «Ihr könnt Euch nicht mehr sicher fühlen» ist platziert. Wir sind schon in Eurem Schlafzimmer – in der politischen Intimsphäre. Das Ziel der Destabilisierung ist erreicht. So oder so.

Stefan Reinhart

Leiter Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten

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Stefan Reinhart ist Leiter der Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten und Chef vom Dienst im Newsroom Zürich. Zuvor war er Deutschland-Korrespondent für SRF.

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Tagesschau, 02.03.2024, 19:30 Uhr

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