In einem Video droht der mehrfach für tot erklärte IS-Chef Abu Bakr al-Bagdadi den «Ungläubigen» im Westen mit weiterem Terror. Welche Absichten er und seine Organisation mit den Bildern womöglich verfolgen, weiss der «Zeit»-Autor Yassin Musharbash.
SRF News: Halten Sie die neusten Video-Aufnahmen von Abu Bakr al-Bagdadi für echt?
Yassin Musharbash: Ich habe dazu mit einigen Experten und westlichen Nachrichtendienstlern Rücksprache gehalten. Auch wenn man sich in so einem Fall nie zu 100 Prozent sicher sein kann – er hat seit der letzten Aufnahme 2014 etwa 15 Kilogramm zugenommen und ist deutlich älter geworden – ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass der Mann auf dem Video Bagdadi ist.
Bagdadi erwähnt unter anderem die Terroranschläge in Sri Lanka an Ostern. Heisst das, das Video ist ziemlich aktuell?
Das Video hat zwei Teile: Im ersten Teil sieht man, wie Bagdadi redet. Im zweiten Teil hört man bloss eine Stimme, die wahrscheinlich seine ist, die über Sri Lanka spricht. Dort erklärt er diese Anschläge für eine Vergeltungsmassnahme für die Schlacht der internationalen Anti-IS-Koalition gegen den IS in Baghus, dem letzten Rückzugsort des IS in Syrien. Offenbar war das Video vor den Anschlägen von Sri Lanka fertig produziert, der Bezug dazu wurde erst später aufgenommen und an die Bilder angehängt.
Bagdadi dürfte viele Entwicklungen bloss zur Kenntnis nehmen – ohne sie steuern zu können.
Wie gross ist Bagdadis direkter Einfluss in der Terrororganisation heute noch?
Bagdadi wird in dem Video so dargestellt, als ob er die volle Kontrolle über den IS hätte. Er wird in Kreisen von IS-Kadern gezeigt, die ihm Aktenmappen aus den verschiedenen Provinzen reichen. Tatsächlich ist aber nicht abschätzbar, wie gross Bagdadis Einfluss noch ist. Ein Rest an Kontrolle über den IS hat er wohl noch, allerdings dürfte er viele Entwicklungen bloss zur Kenntnis nehmen, ohne sie wirklich steuern zu können.
Warum wurde dieses Video ausgerechnet jetzt veröffentlicht?
Nach dem Verlust des physischen Kalifats will der IS den «Kalifen» wohl nochmals präsentieren und damit beweisen, dass er lebt. Der Zeitpunkt hängt möglicherweise mit dem bevorstehenden Fastenmonat zusammen. Für dschihadistische Organisationen spielt der Ramadan traditionell eine wichtige Rolle. Der Veröffentlichungszeitpunkt könnte aber auch schlicht der Tatsache geschuldet sein, dass die Verantwortlichen beim IS glauben, sich derzeit gerade nicht im Visier einer US-Kampfdrohne zu befinden.
Eine Video-Veröffentlichung hinterlässt Spuren – und ist daher ein Risiko für den IS.
Wie stark ist der IS heute noch, nachdem er seine Herrschaftsgebiete in Syrien und Irak verloren hat?
Der IS will mit dem Video seinen weltweiten Sympathisanten vermitteln, dass die Organisation immer noch funktioniere. Ein stückweit ist das Fassade – aber nicht ausschliesslich. So schätzt etwa die UNO, dass weltweit mindestens noch 30'000 IS-Kämpfer am Leben sind. Auch erwähnt Bagdadi ausdrücklich Terrorgruppen in Mali oder Burkino Faso, die ihm die Treue geschworen haben. Möglicherweise sehen wir eine Verlagerung des operativen Zentrums des IS vom Nahen Osten nach Afrika.
Gibt das Video neue Hinweise auf den Aufenthaltsort von Bagdadi?
Geheimdienstler werden sich diese Bilder sehr genau anschauen und herauszufinden versuchen, wo man die Kissen und Matratzen kaufen kann, die zu sehen sind. Für mich sieht es wie eine nahöstliche Szene aus. Bagdadi befindet sich wohl noch immer im syrisch-irakischen Wüstengebiet. Sicher ist: Eine solche Veröffentlichung hinterlässt Spuren und ist daher ein Risiko für den IS.
Das Gespräch führte Susanne Stöckl.