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Tribunal für Ex-Jugoslawien «Kriegsverbrecher wären ungeschoren davongekommen»

Nach 24 Jahren Tätigkeit hat das UNO-Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien die letzten Urteile gefällt. SRF-Korrespondentin Elsbeth Gugger zieht eine positive Bilanz.

SRF News: Das Gericht in Den Haag nahm 1993 seine Arbeit auf. Wie stellte sich die damalige Situation dar?

Elsbeth Gugger: Die Kriege auf dem Balkan waren noch in vollem Gange, als tausende Kilometer entfernt in Den Haag das Gericht seine Arbeit aufnahm. Plötzlich waren in einem Gerichtssaal Richter in neuen, schwarz-roten Roben, ein Chefankläger und alles nötige Gerichtspersonal, das über die Kriegsgräuel auf dem Balkan urteilen sollte. Bei der ersten Gerichtssitzung ging es ohne Angeklagte um Verfahrensfragen. So etwa die Frage, wie Dusko Tadic, der erste Angeklagte vor dem Tribunal, von Deutschland aus nach Den Haag überstellt werden könnte. Auch spielte sich das Ganze in einem ehemaligen Versicherungsgebäude ab, auf dessen Fassade noch der Firmenschriftzug prangte. Entsprechend sieht man auf alten Fotos des Sitzes des Kriegsverbrechertribunals keine UNO-Flaggen, sondern dieses seltsame Logo.

Wie hat sich die Arbeitsweise des UNO-Kriegsverbrechertribunals für Ex-Jugoslawien seitdem verändert?

Wichtig war jeweils etwa das Erscheinen der Zeugen. Sie alle mussten zuerst nach Den Haag kommen, um ihre Aussagen vor den Richtern zu machen. Das war eine logistische Herkulesaufgabe für die Zeugenabteilung des Gerichts. So mussten im Verfahren gegen den verstorbenen, früheren serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic Dutzende Bauern aus Kosovo nach Den Haag reisen. Viele von ihnen waren zuvor noch nie im Ausland und besassen auch keinen Reisepass. Die Gerichtsangestellten mussten ihnen bei der Beschaffung der Dokumente helfen, sie im Flugzeug nach Den Haag begleiten und sie dort betreuen bis sie dort ihre Aussagen gemacht hatten. Später waren in gewissen Fällen dann schriftliche Zeugenaussagen möglich. Das hatte nur zum Teil logistische Gründe. So sollte beispielsweise auch verhindert werden, dass traumatisierte Zeuginnen oder Zeugen, etwa Vergewaltigungsopfer, die in mehreren Prozessen auftraten, ihre Geschichte im Gerichtssaal immer wieder erzählen mussten.

Mladic und Karadzic in Uniform.
Legende: Mladic (l) und Kardzic 1995. Beide wurden vom Haager Tribunal als Kriegsverbrecher verurteilt. Reuters Archiv
Früher hatte es stets geheissen, Vergewaltigungen gehörten halt zu einem Krieg. Damit haben die Haager Richter aber gründlich aufgeräumt.

Beim Nürnberger Tribunal nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Vorwurf der Siegerjustiz laut. Das wollte man beim Jugoslawien-Tribunal unbedingt vermeiden. Ist das gelungen?

Ja, auf jeden Fall. So kamen die Richter aus allen Erdteilen, und auch bei der Anklage arbeiteten Juristen aus vielen Ländern zusammen. Bemerkenswert ist zudem, dass der Frauenanteil beim Gerichtspersonal sehr hoch war.

Frau mit Mikrofon.
Legende: Elsbeth Gugger ist SRF-Korrespondentin in den Niederlanden. Sie wohnt im Amsterdam. srf

Der Prozess gegen Milosevic konnte nicht abgeschlossen werden, der angeklagte frühere serbische Präsident starb im März 2006 in Untersuchungshaft. War das der Tiefpunkt des Haager Tribunals?

Es war sicher eine riesige Enttäuschung, doch kann man kaum dem Tribunal die Schuld für Milosevics Tod geben. Daran ist niemand schuld. Milosevic starb eines natürlichen Todes, wie die Ärzte bestätigten. Sicher war diese Entwicklung eine Art Tiefpunkt für das Gericht. Doch davon erholte es sich relativ rasch wieder.

Was hat das Jugoslawientribunal im Rückblick auf die vergangenen 24 Jahre erreicht?

Das Gericht hat internationale Strafrechtsgeschichte geschrieben. So wurde es zum Vorbild für viele weitere internationale Strafgerichte, vor allem für den internationalen Strafgerichtshof ICC, der seine Tätigkeit 2002 in Den Haag aufnahm. Das Tribunal für Ex-Jugoslawien tat etwas, was zuvor noch niemals gemacht worden war: Es wurden Staatschefs angeklagt und ihnen wurde der Prozess gemacht. Auch Ministerpräsidenten, Generäle, Innenminister und viele andere hohe Politiker, Militärs oder Polizisten kamen nicht ungeschoren davon. Das Gericht hat gegen Mitglieder aller Kriegsparteien und gegen Angehörige aller involvierten Ethnien ermittelt. Es sind nicht nur – wie so oft kritisiert – bosnische Serben angeklagt und abgeurteilt worden, sondern auch bosnische Muslime oder Kosovo-Albaner.

Ohne das Tribunal wären Leute wie Kardzic oder Mladic, die für die schlimmsten Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich sind, ungeschoren davongekommen.

Eine grosse Errungenschaft des Tribunals ist auch der Umgang mit Vergewaltigungen. Früher hatte es stets geheissen, Vergewaltigungen gehörten halt zu einem Krieg. So waren diese Verbrechen beispielsweise in Nürnberg überhaupt kein Thema. Damit haben die Haager Richter aber gründlich aufgeräumt: Vergewaltigungen sind in ihren Augen ein Instrument des Aggressors. Sie wurden deshalb als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft und entsprechend schwer bestraft. Diese Sicht wurde inzwischen auch von anderen Tribunalen übernommen.

Welche Bilanz ziehen Sie im Rückblick auf die Tätigkeit des Haager Tribunals?

Sicher eine positive. Von den insgesamt 161 Angeklagten befindet sich kein einziger mehr auf der Flucht, 84 von ihnen wurden verurteilt. Natürlich gab es in den 24 Jahre auch Pannen und andere Zwischenfälle. So wurden umstrittene Urteile gefällt und es passierten auch Fehler. Doch unter dem Strich wurde schier Unglaubliches geleistet: Ohne das Tribunal wären Leute Radovan Kardzic oder Ratko Mladic, die für die schlimmsten Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich sind, ungeschoren davongekommen. Ohne die immense Arbeit und Hartnäckigkeit des Tribunals wäre es nie zu den Urteilen gegen die beiden Drahtzieher und viele ihrer Gefolgsleute gekommen.

Das Gespräch führte Christoph Kellenberger.

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