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Türkei im Lockdown Wer schlägt politischen Profit aus der Coronakrise?

Istanbul ist der Hotspot im Kleinkrieg um die Bewältigung der Coronakrise zwischen Präsident Erdogan und der Opposition.

Bis Ende Juli soll die türkische Wirtschaft wieder auf Hochtouren laufen, so das Versprechen von Präsident Recep Tayip Erdogan. Auch in Istanbul, dem wirtschaftlichen Powerhouse der Türkei. Davon ist die Stadt aber noch meilenweit entfernt. Wie gross und wie dauerhaft wird der Schaden sein?

Auch Ökonomen falle es schwer, klare Prognosen zu machen, räumt Richard Grieveson ein. Der Wirtschaftswissenschaftler beobachtet von Wien aus die türkische Wirtschaft. Alarmzeichen sieht er bei den Devisenkursen. Die Fremdwährungsreserven der türkischen Zentralbank sind knapp geworden.

Istanbul
Legende: Der 80-Millionen-Staat Türkei ist vergleichsweise stark von der Pandemie betroffen, besonders die Wirtschaftsmetropole Istanbul am Bosporus. Reuters

Die türkische Lira fällt rapide. Seit Jahresanfang hat sie zum Dollar mehr als einen Fünftel ihres Werts verloren. Die Zentralbank kann nicht viel dagegen tun, sagt der Experte am Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche.

Dreht Erdogan an der Zinsschraube?

Je schwächer aber die Währung, umso teurer werden die Auslandsschulden, nicht nur für den Staat. Grieveson schliesst nicht aus, dass Erdogan auch jetzt wieder, wie bei der letzten Krise vor zwei Jahren, eine Kehrtwende macht und Zinserhöhungen zulässt, in der vagen Hoffnung, die Lira so zu stützen. Wird er auch den Internationalen Währungsfonds um Hilfe bitten?

Das kann sich der Türkei-Kenner in Wien nur schwer vorstellen. Der selbstbewusste türkische Präsident hat einen solchen Bittgang stets ausgeschlossen, also dürfte er wohl auch jetzt zu stolz sein.

Beliebtheitswerte weiterhin hoch

Gemäss einer Erhebung hatte im April ein Viertel der türkischen Bevölkerung Schwierigkeiten, nur schon die grundlegendsten Ausgaben für Essen und Wohnen zu decken. Dennoch Erdogan bleibt der beliebteste Politiker im Land.

Und doch: Es regt sich Widerstand. Seit den letzten Gemeindewahlen kontrolliert die Opposition die drei grössten Städte: Istanbul, Ankara und Izmir. Sie fordern Erdogan heraus. Bei dem Streit geht es vordergründig um die Frage, wie am effizientesten geholfen werden kann. Aber genauso geht es darum, wer politisch am überzeugendsten durch diese Zeit kommt.

Erdogan
Legende: «Wir werden zur Normalität zurückkehren, einer neuen Normalität», versprach Präsident Erdogan diese Woche. In verschiedenen Provinzen sollen ab Montag die Beschränkungen aufgehoben werden. Keystone

Der Staatspräsident verbot den Stadtpräsidenten, eigene Spendenaktionen für die Bedürftigen zu betreiben, während er selbst einen eigenen staatlichen Hilfsfonds ins Leben rief und Teile seines Präsidentenlohnes spendete.

Die drei Stadtpräsidenten der Opposition argumentieren, sie hätten die lokalen Kenntnisse und die Logistik, um am flexibelsten auf die Not der Bevölkerung zu reagieren. «Wie kann es sein, dass ein Präsident einem bestraft, wenn man den Armen hilft?», fragen sie ganz offen.

Herausforderer auf Pfaden Erdogans

Gleichzeitig wurden sie kreativ, um das Verbot zu umgehen. Neuerdings sammeln sie nicht mehr direkt Geld, sondern sie wirken als Vermittler, die Bedürftige und Gönner zusammenbringen. Dagegen scheint Erdogan noch kein Gegenmittel gefunden zu haben.

In den Umfragen haben die aufmüpfigen Lokalpolitiker denn auch zugelegt. Einem werden Ambitionen nachgesagt, Erdogan bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zu beerben: Ekrem Imamoglu, Bürgermeister von Istanbul. Doch Istanbul ist für Erdogan nicht irgendeine Stadt.

Hier startete er selbst seine politische Karriere. Und im Zentrum von Erdogans politischer Strategie damals waren der Ausbau des Gesundheitswesens und die Hilfe für die Armen. Dass Imamoglu den Präsidenten nun exakt mit der gleichen Strategie herausfordert, dürfte den Konflikt noch verschärfen.

Echo der Zeit, 07.05.2020, 18 Uhr

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