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Keine Amnestie in der Türkei: Das Todesurteil für Dissidenten?
Aus SRF 4 News aktuell vom 08.04.2020. Bild: Reuters
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Amnestie in der Türkei «Das Ganze läuft auf eine Strafverschärfung hinaus»

Die türkische Regierung will fast 100'000 Häftlinge freilassen – das wären rund ein Drittel aller Gefangenen im Land. Das Parlament berät derzeit über die dazu nötige Teilamnestie. Profitieren sollen vor allem Frauen, Schwerkranke und ältere Gefangene. Keine Chance auf Amnestie sollen hingegen politische Gefangene haben. Laut Thomas Seibert in Istanbul riskieren diese, sich in der Haft mit dem Coronavirus zu infizieren.

Thomas Seibert

Thomas Seibert

Journalist in der Türkei

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Thomas Seibert ist seit 1997 Korrespondent für den deutschen «Tagesspiegel» in Istanbul und berichtet auch für andere Medien, unter anderem für SRF.

SRF News: Politische Gefangene sollen in Haft bleiben. Wieso?

Wegen des Terrorismusvorwurfs. Dazu muss man wissen, dass in der Türkei der Begriff des Terrorismus viel breiter ausgelegt ist als in Europa. In der Türkei können auch Meinungsäusserungen ohne Gewaltaufruf als Terrordelikt verfolgt werden, etwa als Unterstützung für eine terroristische Vereinigung. Auf dieser Grundlage sitzen etliche Intellektuelle, Journalisten und Menschenrechtler in Haft und sollen jetzt auch nicht freikommen.

Gewaltverbrecher und politische Dissidenten sind nach Auslegung der Regierung gleich gefährlich. Was für ein Zeichen setzt sie damit?

Das passt zur Weltsicht der Regierung. Präsident Erdogan hat mehrmals erklärt, es gebe Worte, die gefährlicher seien als Bomben. Er hat Journalisten und andere Kritiker öffentlich als Terroristen bezeichnet. Aus der Sicht der Regierung hat es also eine gewisse Logik, dass sie nicht freikommen sollen. Allerdings sagen Gegner des Vorhabens, es widerspreche allen demokratischen rechtsstaatlichen Grundsätzen, zu denen sich die Türkei verpflichtet habe – nicht nur in der eigenen Verfassung, sondern auch als Mitglied des Europarats.

Es gibt unter den Regierungskritikern Leute, die zur Risikogruppe gehören. Ist es ihr Todesurteil, wenn sie in Haft bleiben?

Das sagen deren Unterstützer. Zu den Risikopersonen gehört zum Beispiel der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas, der seit Jahren unter fadenscheinigen Gründen in Haft gehalten wird. Er soll herzkrank sein. Oder der Schriftsteller Ahmet Altan, auch ein ausgesprochener Erdogan-Kritiker.

Wegen der Corona-Krise dürfen die Gefangenen keine Besuche mehr erhalten.

Er ist 70 Jahre alt. Unter dem normalen Zuschnitt dieser Amnestie müssten diese beiden Männer freikommen. Sie bleiben aber hinter Gittern. Der Bruder von Ahmet Altan, Mehmet Altan, sagt, dies sei ein Pakt mit dem Tod.

Aber wenn ein Drittel der Gefangenen freigelassen wird, dann sollte sich die Situation für diese Menschen doch verbessern?

Theoretisch haben die dann mehr Platz, weil statt 300'000 Menschen nur noch 200'000 Menschen im Gefängnis sitzen. Tatsächlich ist es aber so, dass die Bedingungen in den türkischen Gefängnissen nicht immer so sind, dass Infektionskrankheiten aufgehalten werden können. Dazu kommt: Wegen der Corona-Krise dürfen die Gefangenen keine Besuche mehr erhalten. Sie sind also von der Aussenwelt abgeschnitten. Das Ganze läuft somit statt auf eine Amnestie auf eine Strafverschärfung für diese Häftlinge hinaus.

Der Gesetzesentwurf für die Amnestie wird derzeit im Parlament diskutiert. Wird sich die Regierungspartei AKP durchsetzen?

Am Ende werden sich die AKP und ihre Bündnispartnerin, die MHP, durchsetzen, weil sie die Mehrheit in der Volksvertretung haben. Ich glaube nicht, dass sie sich von den Protesten der Opposition noch umstimmen lassen werden. Die Lager werden sich noch unversöhnlicher gegenüberstehen. Die Corona-Krise in der Türkei ist keine Gelegenheit für Regierung und Opposition, aufeinander zuzugehen, um gemeinsam zu handeln. Im Gegenteil: Die Corona-Krise verschärft die innenpolitische Lage weiter.

Das Gespräch führte Salvador Atasoy.

SRF 4 News, 08.04.2020, 06:15 Uhr;

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