Zum Inhalt springen

Auszeit vom Krieg Ein ukrainischer Soldat besucht seine Familie in der Schweiz

Igor aus Charkiw kämpft seit neun Monaten an der Front bei Saporischja. Während eines zehntägigen Urlaubs traf er in der Schweiz seine geflüchtete Frau und seinen Sohn. Im Gespräch mit RTS schildert die Familie, wie sie Trennung und Krieg erlebt.

Ende Juni erhielt Igor (42) von seinem Kommandanten Urlaub, um seine Frau Luda und seinen Sohn Tymur zu besuchen. Doch das war nicht einfach.

Nach Erhalt der Erlaubnis musste er nachweisen, dass seine Familie in der Schweiz wohnt, und die genaue Adresse seines Aufenthaltsorts angeben. Und obwohl er hoffte, erst etwas später im Jahr zu kommen, ging plötzlich alles schnell.

«Ich rief Luda an und sagte ihr: ‹Ich kann jetzt kommen, nur jetzt. Später wird es für mich vielleicht nicht mehr möglich sein, in die Schweiz zu reisen›», erzählt er.

Ein schwieriger Weg

Nach einer fast 60-stündigen Reise mit Bus und Zug kam er am 28. Juni frühmorgens in Neuenburg an. Ihrem Sohn hatten sie im Vorfeld nichts von seinem Besuch erzählt, damit er nicht enttäuscht gewesen wäre, wenn sich die Pläne plötzlich doch noch geändert hätten. «Er war freundlich zu mir, beobachtete mich aufmerksam. Ich spürte, dass die Verbindung zwischen uns wieder stärker wurde», sagt Igor mit einem Lachen.

Ich bin sehr glücklich, dass mein Sohn in der Schweiz und nicht in der Ukraine aufwächst, denn die Ukraine ist derzeit nicht sicher.
Autor: Igor Ukrainischer Soldat

Luda und Tymur kamen im März 2022 in Neuenburg an. Tymur war damals fünf Jahre alt. Seitdem sind sie nur drei oder vier Mal in die Ukraine zurückgekehrt, um Igor zu sehen. Und es war das erste Mal, dass dieser das Land verlassen konnte.

Luda und Tymur zeigten dem ukrainischen Soldaten die Region. Aber Igor wollte vor allem ihren Alltag erleben. «Das Wichtigste für mich war zu sehen, wie mein Sohn aufwächst.» Er habe die Schule seines Sohnes besucht, am Umzug zum Ende des Schuljahrs teilgenommen, ihn zu seinem Sporttraining begleitet, gesehen, wie er Velo fahre.

«Ich bin sehr froh, dass er hier und nicht in der Ukraine aufwächst, denn die Ukraine ist im Moment nicht sicher», betont Igor.

An den Tod zu denken, hilft mir nicht, meine Arbeit gut zu machen.
Autor: Igor Ukrainischer Soldat

Diese zehn Tage waren jedoch nicht immer einfach. «Es war kein Urlaub», findet Luda. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn müsse bei jedem Besuch ein wenig neu aufgebaut werden. «Es ist nicht einfach, seinen Papa so selten zu sehen. Das ist mit vielen Emotionen verbunden, es braucht jeweils etwas Anlaufzeit.»

Der Tod im Hintergrund

Für die Ukrainerin Luda verdeutlicht dieser Besuch ihre Realität seit mehr als drei Jahren: das Gefühl, zwei parallele Leben zu führen, eines physisch in der Schweiz und das andere mental an der ukrainischen Front. Sie erklärt, dass sie nie wisse, ob sie ihren Mann lebend wiedersehen werde.

Igor zieht es vor, nicht darüber nachzudenken. «Meiner Meinung nach hilft es mir nicht, meine Arbeit gut zu machen, wenn ich an den Tod denke», betont er. «Und es wäre belastend für meine Familie, wenn ich Angst hätte oder zu starke Emotionen erleben würde.»

Sein Besuch in Neuenburg war ein kleines Wunder: Jetzt, wo er an der Front zurück ist, hat seine Führung gerade entschieden, dass alle Urlaube in seiner Einheit ab sofort verboten sind.

RTS, La Matinale, 15.7.2025, 7 Uhr; sten

Meistgelesene Artikel