Die Inszenierung wirkte schon fast wie eine Siegesfeier, als Wladimir Putin am 30. September 2022 die ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischja und Cherson formal annektierte. Vor seinen Loyalisten liess er sich auf der Bühne des prächtigen Georgsaals im Kreml beklatschen – genau dort, wo er rund acht Jahre zuvor auch die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim besiegelte.
An seiner Seite wurden auch die vier Statthalter bejubelt, die der russische Präsident als Gouverneure der jeweiligen Regionen ernannt hatte. Putin sprach von «Millionen, die in ihre historische Heimat zurückkehren», und machte das Versprechen, dass sie «für immer russische Bürger sein werden».
Ohne einen russischen Pass ist es praktisch unmöglich, dort zu leben.
Zwei Monate später schreibt «The Moscow Times», es seien bereits rund 80'000 russische Pässe verteilt worden. Die Zahl kann unabhängig weder bestätigt noch widerlegt werden, aber sie ist durchaus plausibel.
Es gibt zahlreiche Berichte, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer in den besetzten Gebieten unter Druck gesetzt werden, einen russischen Pass zu beantragen, weil ihnen sonst sämtliche Leistungen verwehrt bleiben – etwa die Auszahlung des Lohnes, der Besitz eines Bankkontos, der Kauf oder Verkauf einer Wohnung, der Erhalt von Renten oder Sozialleistungen. «Ohne einen russischen Pass ist es praktisch unmöglich, dort zu leben», sagt die Ukrainerin Christina. Man werde nicht einmal beim grössten Notfall im Spital behandelt, wenn man einen ukrainischen Pass habe. «Es ist, als gäbe es für sie keine ukrainische Nation mehr.»
Heute lebt Christina in ihrer Exilheimat Kiew. Eigentlich kommt die 56-jährige Lehrerin aus der Stadt Horliwka in der Region Donezk. Christina erlebte die russische Besatzung bereits im Jahr 2014, als Horliwka durch von Russland kontrollierte Separatisten-Milizen besetzt und daraufhin zum Teil der sogenannten Volksrepublik Donezk erklärt wurde.
Journalisten, Geistliche und Lehrer im Fokus
Auch wenn Russland bis zur offiziellen Annektierung 2022 stets abgestritten hatte, in den abtrünnigen Regionen von Donezk und Luhansk direkt involviert zu sein, funktionierten sie schon von Anfang an als De-facto-Regime Russlands. Der Kreml ernannte bereits damals die politischen Führungen in diesen Regionen, bewaffnete deren Streitkräfte, die er ebenfalls teilweise personell stellte, und kontrollierte die Verwaltung sowie die Finanzen.
Christina hielt an ihrem ukrainischen Pass fest und machte auch sonst keinen Hehl daraus, dass sie Russland und seine Statthalter in der Region ablehnt. Auf Twitter fing sie an zu schreiben, wie der ukrainische Staat nach und nach abgebaut wurde.
Doch gerade als Lehrerin war sie einer gezielten politischen Verfolgung ausgesetzt, was ihr später noch zum Verhängnis werden sollte: «Mir wurde gesagt, die gefährlichsten Leute seien Journalisten, Geistliche und Lehrer. Da habe ich gefragt: Warum denn bitte schön Lehrer? Die Antwort war: Weil man ihnen zuhört. Das ist mächtiger als eine Waffe.»
Kinder lernen in den Schulen ein russisches Weltbild
Die Russifizierung an den Schulen fing früh an, erzählt Christina. «Wir mussten überall russische Flaggen aufhängen. Der Unterricht darf nur noch auf Russisch durchgeführt werden, die ukrainische Sprache wurde verboten. Auch alle ukrainischen Bücher wurden sofort entfernt, sogar die russischsprachigen Bücher von ukrainischen Verlegern. Jetzt müssen es russische Verleger sein.»
Es ginge um viel mehr als nur um die Sprache. In den Schulen soll neu das russische Weltbild und die russische Interpretation der Geschichte gelehrt werden.
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Bild 1 von 4. In den Schulen wurden ukrainische Bücher durch russische ersetzt. Nach Beginn des grossen Angriffskriegs im Jahr 2022 wurden die Lehrpläne nochmals umgestaltet – zugunsten einer verstärkten patriotischen Ausbildung. (Foto: Mariupol, August 2022). Bildquelle: Imago / Ilya Pitalev.
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Bild 2 von 4. Im neuen Lehrplan lernen die ukrainischen Kinder in den besetzten Gebieten eine russische Interpretation der Geschichte und ein russisches Narrativ des Kriegs gegen die Ukraine. (Foto: Region Donezk). Bildquelle: Imago / Alexandr Suhov.
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Bild 3 von 4. Wie in Russland werden auch Kinder in den besetzten Gebieten durch russische Jugendarmee-Organisationen früh militarisiert. (Foto: Region Donezk). Bildquelle: Imago / Sergey Averin.
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Bild 4 von 4. In der russischen Jugendarmee «Junarmija» können Kinder bereits ab acht Jahren Mitglied sein. (Foto: Mariupol, September 2023). Bildquelle: Imago / Alexandr Suhov.
Die Existenz einer eigenständigen ukrainischen Nation wird den Menschen vor Ort abgesprochen. Das beobachtet auch die ukrainische NGO East SOS, die die Russifizierung in den besetzten Gebieten dokumentiert – so auch die propagandistische Indoktrinierung der ukrainischen Kinder in den Schulen.
Der zuständige Ermittler Nazarii Lutsenko berichtet: «Die ukrainischen Kinder lernen jetzt das russische Narrativ, dass die ukrainische Nation eine erfundene Nation sei, die angeblich vom Westen konstruiert wurde, um Russland zu teilen und zu schwächen. Ihnen wird eingebläut, dass sie alle eigentlich Russen seien.» Somit werde der russische Krieg gegen die Ukraine als Befreiung umgedeutet und heroisiert.
Als Ressource werden ukrainische Kinder betrachtet, die für künftige Kriege praktisch zu russischen Soldaten erzogen werden sollen.
Die Russifizierungsmethoden, die bereits nach 2014 in Donezk, Luhansk und auf der Krim zu beobachten waren, werden jetzt in den neu besetzten Gebieten nach 2022 genauso sichtbar. Die Umerziehung sei sogar noch radikaler geworden, findet Lutsenko.
Die Kinder würden früh militarisiert: «Als Ressource werden ukrainische Kinder betrachtet, die für künftige Kriege praktisch zu russischen Soldaten erzogen werden sollen. An den Schulen wurden paramilitärische Vereine gegründet, wie wir sie schon aus Russland kennen.» Lutsenko kennt Fälle, bei denen Eltern vom Sozialdienst angedroht wurde, sie könnten das Sorgerecht verlieren, wenn ihre Kinder nicht mitmachten.
Auch die Uno berichtet, dass ukrainische Jugendliche in den besetzten Gebieten auf einen späteren Militärdienst vorbereitet werden. Einige seien im Alter von 18 Jahren bereits in die russische Armee eingezogen worden. Wie viele genau betroffen sind, kann durch den erschwerten Zugang zu diesen Regionen nicht vollends ermittelt werden.
Repressionen, Patrouillen und willkürliche Verhaftungen
Gemäss Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder UNHCR werden Zivilistinnen und Zivilisten in den besetzten Gebieten systematisch Opfer von Repressionen, willkürlichen Verhaftungen, Folter und missbräuchlicher Behandlung. Die meisten dieser Berichte basieren auf Augenzeugenaussagen, da Ermittlungen vor Ort schwierig sind.
Der Besitz einer ukrainischen Flagge reicht aus, um verhaftet und im schlimmsten Fall sogar gefoltert zu werden.
Nazarii Lutsenko von East SOS nennt die russische Besatzung eine Tragödie für die ukrainische Bevölkerung. «Die Menschen sind enormen Repressionen ausgesetzt. Da gibt es Patrouillen, die zum Beispiel genau darauf achten, ob jemand ukrainisch spricht.» Zudem würden russische Soldaten regelmässig Hausdurchsuchungen durchführen. «Der Besitz einer ukrainischen Flagge reicht aus, um verhaftet und im schlimmsten Fall sogar gefoltert zu werden.»
Als Erstes hätten die russischen Besatzer aber Jagd auf jene Menschen gemacht, die vor dem Krieg eine aktive Rolle in der Gesellschaft einnahmen und sich loyal gegenüber der ukrainischen Regierung positioniert hatten. «Dazu gehören natürlich ehemalige Militärangehörige oder Familien aktiver Soldaten. Dazu gehören aber auch Lehrer, ukrainische Beamte und lokale Politiker.»
Auch für Christina wurde die Luft irgendwann dünner: «Ich habe schnell gemerkt, dass ich hier nicht leben, nicht atmen kann.» 2015 kündigte sie an ihrer Schule in Horliwka und zog nach Charkiw um. Doch das repressive System holte sie im Jahr 2021 doch noch ein, als sie via Russland in die Volksrepublik Donezk einreisen wollte, um ihre Mutter zu besuchen. An der Grenze wurde sie aus dem Bus geholt und in einen Keller gebracht. «Sie haben meine alten Twitter-Meldungen gefunden und mir Spionage und Extremismus vorgeworfen.»
Die Menschen warten immer noch darauf, dass die Ukraine sie eines Tages befreit.
Christina verbrachte mehrere Tage in diesem Keller. Dann kam sie für fast zwei Jahre in Untersuchungshaft und für weitere zwei Jahre in Hausarrest. Die Ankläger drohten mit einer Haftstrafe von zwanzig Jahren. Doch mithilfe ihres Anwalts kam sie frei. Christina vermutet, dass sie Platz für Kriegsgefangene schaffen mussten und sie nicht mehr interessant für die Besatzungsverwaltung war.
«Als ich das Gefängnis verlassen habe, standen da ganz viele Menschen», erzählt Christina mit Tränen in den Augen. Sie wusste nicht, wie stark die russische Propaganda-Maschinerie in den besetzten Gebieten wirkte und ob die Menschen dort die Anklagepunkte glaubten. «Ich hatte Angst, dass sie mich vielleicht angreifen könnten. Aber dann nahm mich eine Frau in den Arm und sagte: ‹Wir sind mit dir. Wir warten immer noch auf die Ukraine.› Da wurde mir klar: Es gibt dort immer noch Menschen, die darauf warten, dass die Ukraine sie eines Tages befreit.» Horliwka steht seit mehr als elf Jahren unter russischer Verwaltung.
Christina ist überzeugt, dass die ukrainische Identität nicht einfach ausgelöscht werden kann, auch wenn es in den besetzten Gebieten sehr viele Menschen gibt, bei denen die Russifizierung funktioniert hat oder die von Anfang an eine prorussische Einstellung hatten. Sollte Horliwka jemals wieder in ukrainischer Hand sein, würde die 56-Jährige zurückkehren. Aber sie weiss auch, dass der Krieg weitergeht und eine Rückkehr noch lange nicht möglich sein wird.