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Besetzte Gebiete Wie Russland die ukrainische Identität ausradieren will

Rund ein Fünftel der Ukraine steht unter russischer Besatzung. Die Menschen dort sollen zu Russen gemacht werden.

Die Inszenierung wirkte schon fast wie eine Siegesfeier, als Wladimir Putin am 30. September 2022 die ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischja und Cherson formal annektierte. Vor seinen Loyalisten liess er sich auf der Bühne des prächtigen Georgsaals im Kreml beklatschen – genau dort, wo er rund acht Jahre zuvor auch die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim besiegelte.

Wladimir Putin mit 4 anderen Männern (Statthalter) auf der Bühne. Feierliche Stimmung
Legende: Am 30. September 2022 annektierte Russland die ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Saporischja und Cherson völkerrechtswidrig. IMAGO / Anadolu Agency

An seiner Seite wurden auch die vier Statthalter bejubelt, die der russische Präsident als Gouverneure der jeweiligen Regionen ernannt hatte. Putin sprach von «Millionen, die in ihre historische Heimat zurückkehren», und machte das Versprechen, dass sie «für immer russische Bürger sein werden».

Ohne einen russischen Pass ist es praktisch unmöglich, dort zu leben.
Autor: Christina Lehrerin aus Horliwka, Region Donezk

Zwei Monate später schreibt «The Moscow Times», es seien bereits rund 80'000 russische Pässe verteilt worden. Die Zahl kann unabhängig weder bestätigt noch widerlegt werden, aber sie ist durchaus plausibel.

Besetzte Gebiete

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Karte der Ukraine. Besetzte Gebiete sind eingezeichnet
Legende: SRF

Auf dem Papier hat Russland die gesamten ukrainischen Oblaste Luhansk, Donezk, Saporischja und Cherson völkerrechtswidrig annektiert – also auch Teile dieser Regionen, die Russland gar nicht militärisch besetzt und die immer noch unter Kontrolle der Ukraine stehen. In den von Russland besetzten Gebieten hat die Ukraine allerdings keine staatliche Präsenz mehr.

Um einen Anstrich von Legitimität zu kreieren, hat Russland in den betroffenen Gebieten Scheinreferenden über einen Anschluss an Russland durchgeführt. Die Ergebnisse werden international jedoch nicht anerkannt, weil sie unter Zwang, ohne internationale Kontrolle und in Verletzung des Völkerrechts stattfanden. Das russische Propaganda-Narrativ lautet aber dennoch: Eine Mehrheit der Menschen würde zu Russland gehören wollen.

Nach ukrainischen Angaben lebten Anfang 2022 rund 6.37 Mio. Menschen in den Gebieten, die heute besetzt sind. Unter Berücksichtigung von Aus­wanderung, Geflüchteten und weiteren Bevölkerungsveränderungen wird die Zahl der Menschen, die derzeit unter russischer Besatzung leben, auf etwa 3.5 Mio. Menschen geschätzt. Genaue Erhebungen liegen aber nicht vor.

Es gibt zahlreiche Berichte, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer in den besetzten Gebieten unter Druck gesetzt werden, einen russischen Pass zu beantragen, weil ihnen sonst sämtliche Leistungen verwehrt bleiben – etwa die Auszahlung des Lohnes, der Besitz eines Bankkontos, der Kauf oder Verkauf einer Wohnung, der Erhalt von Renten oder Sozialleistungen. «Ohne einen russischen Pass ist es praktisch unmöglich, dort zu leben», sagt die Ukrainerin Christina. Man werde nicht einmal beim grössten Notfall im Spital behandelt, wenn man einen ukrainischen Pass habe. «Es ist, als gäbe es für sie keine ukrainische Nation mehr.»

Frau sitzt nachdenklich auf einer Parkbank im Freien.
Legende: Christina hat ihre Heimatstadt Horliwka in der Region Donezk verlassen, als diese unter russische Verwaltung geriet. SRF

Heute lebt Christina in ihrer Exilheimat Kiew. Eigentlich kommt die 56-jährige Lehrerin aus der Stadt Horliwka in der Region Donezk. Christina erlebte die russische Besatzung bereits im Jahr 2014, als Horliwka durch von Russland kontrollierte Separatisten-Milizen besetzt und daraufhin zum Teil der sogenannten Volksrepublik Donezk erklärt wurde.

Journalisten, Geistliche und Lehrer im Fokus

Auch wenn Russland bis zur offiziellen Annektierung 2022 stets abgestritten hatte, in den abtrünnigen Regionen von Donezk und Luhansk direkt involviert zu sein, funktionierten sie schon von Anfang an als De-facto-Regime Russlands. Der Kreml ernannte bereits damals die politischen Führungen in diesen Regionen, bewaffnete deren Streitkräfte, die er ebenfalls teilweise personell stellte, und kontrollierte die Verwaltung sowie die Finanzen.

Volksrepubliken Donezk und Luhansk

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Karte der Volksrepubliken Donezk und Luhanks im Jahr 2014
Legende: SRF

Die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk wurden im April 2014 ausgerufen, nachdem bewaffnete prorussische Gruppen in verschiedenen Städten die regionalen Verwaltungsgebäude besetzt hatten. Diese Aktionen wurden von der russischen Regierung koordiniert und logistisch unterstützt.

Russland behauptet bis heute, dass es das Ergebnis eines spontanen Volksaufstands war, weil sich die russischsprachige Bevölkerung «vom Kiewer Regime lossagen» wollen würde. Im Mai 2014 wurde in beiden Gebieten ein Unabhängigkeitsreferendum durchgeführt. Diese fanden unter bewaffneter Kontrolle und ohne internationale Beobachter statt und hatten gemäss OSZE keinerlei demokratische Legitimität.

Im September 2022 wurden die beiden Volksrepubliken formell aufgelöst und gemeinsam mit den neu eroberten Gebieten in den ukrainischen Oblasten Donezk, Luhansk, Saporischja und Cherson durch Russland völkerrechtswidrig annektiert.

Christina hielt an ihrem ukrainischen Pass fest und machte auch sonst keinen Hehl daraus, dass sie Russland und seine Statthalter in der Region ablehnt. Auf Twitter fing sie an zu schreiben, wie der ukrainische Staat nach und nach abgebaut wurde.

Doch gerade als Lehrerin war sie einer gezielten politischen Verfolgung ausgesetzt, was ihr später noch zum Verhängnis werden sollte: «Mir wurde gesagt, die gefährlichsten Leute seien Journalisten, Geistliche und Lehrer. Da habe ich gefragt: Warum denn bitte schön Lehrer? Die Antwort war: Weil man ihnen zuhört. Das ist mächtiger als eine Waffe.»

Kinder lernen in den Schulen ein russisches Weltbild

Die Russifizierung an den Schulen fing früh an, erzählt Christina. «Wir mussten überall russische Flaggen aufhängen. Der Unterricht darf nur noch auf Russisch durchgeführt werden, die ukrainische Sprache wurde verboten. Auch alle ukrainischen Bücher wurden sofort entfernt, sogar die russischsprachigen Bücher von ukrainischen Verlegern. Jetzt müssen es russische Verleger sein.»

Es ginge um viel mehr als nur um die Sprache. In den Schulen soll neu das russische Weltbild und die russische Interpretation der Geschichte gelehrt werden.

Die Existenz einer eigenständigen ukrainischen Nation wird den Menschen vor Ort abgesprochen. Das beobachtet auch die ukrainische NGO East SOS, die die Russifizierung in den besetzten Gebieten dokumentiert – so auch die propagandistische Indoktrinierung der ukrainischen Kinder in den Schulen.

Der zuständige Ermittler Nazarii Lutsenko berichtet: «Die ukrainischen Kinder lernen jetzt das russische Narrativ, dass die ukrainische Nation eine erfundene Nation sei, die angeblich vom Westen konstruiert wurde, um Russland zu teilen und zu schwächen. Ihnen wird eingebläut, dass sie alle eigentlich Russen seien.» Somit werde der russische Krieg gegen die Ukraine als Befreiung umgedeutet und heroisiert.

Als Ressource werden ukrainische Kinder betrachtet, die für künftige Kriege praktisch zu russischen Soldaten erzogen werden sollen.
Autor: Nazarii Lutsenko Ermittler von Kriegsverbrechen, East SOS

Die Russifizierungsmethoden, die bereits nach 2014 in Donezk, Luhansk und auf der Krim zu beobachten waren, werden jetzt in den neu besetzten Gebieten nach 2022 genauso sichtbar. Die Umerziehung sei sogar noch radikaler geworden, findet Lutsenko.

Die Kinder würden früh militarisiert: «Als Ressource werden ukrainische Kinder betrachtet, die für künftige Kriege praktisch zu russischen Soldaten erzogen werden sollen. An den Schulen wurden paramilitärische Vereine gegründet, wie wir sie schon aus Russland kennen.» Lutsenko kennt Fälle, bei denen Eltern vom Sozialdienst angedroht wurde, sie könnten das Sorgerecht verlieren, wenn ihre Kinder nicht mitmachten.

Mann mit Brille spricht in Mikrofon in Büro.
Legende: Nazarii Lutsenko dokumentiert für die ukrainische NGO East SOS die Situation in den besetzten Gebieten. Dies beruht in erster Linie auf Berichten von Augenzeugen. SRF

Auch die Uno berichtet, dass ukrainische Jugendliche in den besetzten Gebieten auf einen späteren Militärdienst vorbereitet werden. Einige seien im Alter von 18 Jahren bereits in die russische Armee eingezogen worden. Wie viele genau betroffen sind, kann durch den erschwerten Zugang zu diesen Regionen nicht vollends ermittelt werden.

Repressionen, Patrouillen und willkürliche Verhaftungen

Gemäss Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder UNHCR werden Zivilistinnen und Zivilisten in den besetzten Gebieten systematisch Opfer von Repressionen, willkürlichen Verhaftungen, Folter und missbräuchlicher Behandlung. Die meisten dieser Berichte basieren auf Augenzeugenaussagen, da Ermittlungen vor Ort schwierig sind.

Der Besitz einer ukrainischen Flagge reicht aus, um verhaftet und im schlimmsten Fall sogar gefoltert zu werden.
Autor: Nazarii Lutsenko Ermittler von Kriegsverbrechen, East SOS

Nazarii Lutsenko von East SOS nennt die russische Besatzung eine Tragödie für die ukrainische Bevölkerung. «Die Menschen sind enormen Repressionen ausgesetzt. Da gibt es Patrouillen, die zum Beispiel genau darauf achten, ob jemand ukrainisch spricht.» Zudem würden russische Soldaten regelmässig Hausdurchsuchungen durchführen. «Der Besitz einer ukrainischen Flagge reicht aus, um verhaftet und im schlimmsten Fall sogar gefoltert zu werden.»

Person mit ukrainischer Flagge blickt auf Soldaten auf leerer Strasse.
Legende: Symbolischer Widerstand gegen die russische Besatzung. (Foto: Cherson, 2022) Keystone / Sergei Grits

Als Erstes hätten die russischen Besatzer aber Jagd auf jene Menschen gemacht, die vor dem Krieg eine aktive Rolle in der Gesellschaft einnahmen und sich loyal gegenüber der ukrainischen Regierung positioniert hatten. «Dazu gehören natürlich ehemalige Militärangehörige oder Familien aktiver Soldaten. Dazu gehören aber auch Lehrer, ukrainische Beamte und lokale Politiker.»

Auch für Christina wurde die Luft irgendwann dünner: «Ich habe schnell gemerkt, dass ich hier nicht leben, nicht atmen kann.» 2015 kündigte sie an ihrer Schule in Horliwka und zog nach Charkiw um. Doch das repressive System holte sie im Jahr 2021 doch noch ein, als sie via Russland in die Volksrepublik Donezk einreisen wollte, um ihre Mutter zu besuchen. An der Grenze wurde sie aus dem Bus geholt und in einen Keller gebracht. «Sie haben meine alten Twitter-Meldungen gefunden und mir Spionage und Extremismus vorgeworfen.»

Die Menschen warten immer noch darauf, dass die Ukraine sie eines Tages befreit.
Autor: Christina Lehrerin aus Horliwka

Christina verbrachte mehrere Tage in diesem Keller. Dann kam sie für fast zwei Jahre in Untersuchungshaft und für weitere zwei Jahre in Hausarrest. Die Ankläger drohten mit einer Haftstrafe von zwanzig Jahren. Doch mithilfe ihres Anwalts kam sie frei. Christina vermutet, dass sie Platz für Kriegsgefangene schaffen mussten und sie nicht mehr interessant für die Besatzungsverwaltung war.

«Als ich das Gefängnis verlassen habe, standen da ganz viele Menschen», erzählt Christina mit Tränen in den Augen. Sie wusste nicht, wie stark die russische Propaganda-Maschinerie in den besetzten Gebieten wirkte und ob die Menschen dort die Anklagepunkte glaubten. «Ich hatte Angst, dass sie mich vielleicht angreifen könnten. Aber dann nahm mich eine Frau in den Arm und sagte: ‹Wir sind mit dir. Wir warten immer noch auf die Ukraine.› Da wurde mir klar: Es gibt dort immer noch Menschen, die darauf warten, dass die Ukraine sie eines Tages befreit.» Horliwka steht seit mehr als elf Jahren unter russischer Verwaltung.

Christina ist überzeugt, dass die ukrainische Identität nicht einfach ausgelöscht werden kann, auch wenn es in den besetzten Gebieten sehr viele Menschen gibt, bei denen die Russifizierung funktioniert hat oder die von Anfang an eine prorussische Einstellung hatten. Sollte Horliwka jemals wieder in ukrainischer Hand sein, würde die 56-Jährige zurückkehren. Aber sie weiss auch, dass der Krieg weitergeht und eine Rückkehr noch lange nicht möglich sein wird.

10vor10, 7.11.25, 21:50 Uhr;brus

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