Der Schweizer Jürg Eglin hat zweieinhalb Jahre die Delegation des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) in der Ukraine geleitet. Diesen Monat geht sein Einsatz turnusgemäss zu Ende. Gerade in den ersten Kriegsjahren gab es in der Ukraine viel Kritik am IKRK wegen seiner Unparteilichkeit. Eglin blickt zurück und nimmt Stellung.
SRF News: Was für ein Land lassen Sie zurück?
Jürg Eglin: Als ich hier vor zweieinhalb Jahren angefangen hatte, kam ich in der Hoffnung, dass dieser Krieg bald ein Ende finden werde. Jetzt, August 2025, sind wir immer noch mitten im Kriegsgeschehen. In unserem Umfeld hat sich viel verändert, obwohl sich die allgemeine Lage nicht verbessert hat. Für das IKRK hat sich auch einiges verändert. Wir konnten unsere Arbeit über die Jahre besser umsetzen. Und wir stehen heute viel besser da – auch was die Akzeptanz der Bevölkerung betrifft und vor allem auch der ukrainischen Behörden.
Unsere Prinzipien sind inmitten des Kriegschaos schwer verständlich.
Viele Menschen in der Ukraine haben ein negatives Bild vom IKRK. Weshalb?
Ich würde das nuancieren: Sie hatten ein negatives Bild. Wir sind seit 2014 präsent in der Ukraine. Als dann 2022 der Krieg ausbrach, haben wir unsere Position neu definiert, vor allem in Bezug auf die Prinzipien der Neutralität und der Unparteilichkeit. Diese Prinzipien sind inmitten des Kriegschaos schwer verständlich für Leute, die unter den Attacken leiden und deren Zukunft zusammenbricht. Das wurde auch bewusst gegen uns ausgespielt.
Wir sind als grosse Organisation sehr sichtbar.
In der Zwischenzeit hat man verstanden, dass unsere Art und Weise zu arbeiten auch viele Vorteile bringt. Wir können Dinge machen, die andere nicht machen können. Wir funktionieren nach den Prinzipien des internationalen Völkerrechts, der Genfer Konvention. Diese machen Sinn, werden aber emotional oft falsch verstanden und umgedeutet.
Am Ende des Tages sieht man dann doch, dass sie auch etwas bringen. Wir haben viel Erleichterung gebracht für Familien von gefallenen Soldaten oder für Angehörige von Kriegsgefangenen. Auch die Behörden haben das mehr in ihre Arbeit und in ihr Verhältnis zu uns eingebunden. Heute geht es viel besser.
Können Sie also die Kritik der Leute vor Ort nachvollziehen, dass sich das IKRK zu wenig um das Leid der Menschen in der Ukraine kümmere?
Die Kritik am System, dass nicht genug gemacht wird, ist zum Teil berechtigt. Aber sie muss nuanciert werden: Wo sind die Hindernisse? Wo sind die Hürden? Und die sind nicht vorwiegend bei uns. Sie sind systemisch und gehen über unseren Einfluss hinaus.
Ich verstehe das Leiden der Familien, die nicht wissen, was mit ihren Liebsten passiert ist. Dann sehen sie Bilder, wie ihre Liebsten behandelt werden. Wir verstehen, dass die Betroffenen Antworten suchen und dass sie erwarten, dass das IKRK rasch mehr macht.
Inzwischen verstehen die Leute und die Behörden besser, wo unsere Limiten sind. Sie wissen, dass wir Empathie haben und zeigen. Die Kritik wegen fehlender Empathie weise ich zurück.
Wieso sind die Erwartungen ans IKRK so hoch?
Als humanitäre Organisation stehen wir ziemlich im Zentrum von diesem internationalen bewaffneten Konflikt. Wir sind als grosse Organisation sehr sichtbar. Aber was wir wirklich machen, ist nicht sehr sichtbar. Unsere Öffentlichkeitsarbeit ist auch relativ diskret. Das hilft uns auch beim Zugang zu Behörden, zu Sicherheitskräften und über die Frontlinie hinaus.
Das Gespräch führte Christof Forster.