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Umstrittene Freitagspredigt Plant Erdogan eine Kopftuchpflicht in der Türkei?

Seit einem landesweit übertragenen Freitagsgebet sind die Frauen aufgeschreckt: Freizügige Kleider wurden da zum Thema.

Recep Tayyip Erdogan machte den Türken ein Versprechen, als seine islamisch konservative Partei AKP vor 23 Jahren an die Macht gewählt wurde. Ein Versprechen, das er als Staatspräsident immer wieder bekräftigte: «Wir schreiben niemandem seinen Glauben, Lebensstil oder seine Kleidung vor.»

Erdogan trat damit Befürchtungen entgegen, dass er allen Frauen das Kopftuch vorschreiben würde. Sein Versprechen schuf einen gesellschaftlichen Konsens in der Türkei, wonach jeder und jede sich kleiden kann, wie er oder sie möchte – ob mit Kopftuch oder Minirock.

Körperbetonte Kleidung gegen Gott?

Diesen Konsens sehen viele Türkinnen jetzt gefährdet. Aufgeschreckt wurden sie von einer Predigt, die das staatliche Religionsamt landesweit beim Freitagsgebet vortragen liess: «Das Tragen von kurzen Kleidungsstücken und durchsichtiger Kleidung verstösst gegen Allahs Gebot, den Körper zu bedecken, und ist verboten», hiess es da.

Kleidung, die den Körper zeigt oder seine Konturen betont, ist ein Verstoss gegen die Gebote Gottes.
Autor: Imam Aussagen in der Türkei-weit übertragenen Predigt am 1. August

Wer enge Kleidung trage oder Kleidung, die Arme und Beine entblösse, sei nach den Worten des Propheten so gut wie nackt. «Kleidung, die den Körper zeigt oder seine Konturen betont, ist keine Geschmacksfrage, sondern ein Verstoss gegen die Gebote Gottes», so der Imam weiter.

Verboten gehöre auch die Verbreitung von Bildern von unkeusch gekleideten Personen in den Medien, hiess es in der Predigt, die in den 90'000 Moscheen des Landes verlesen wurde. Zur Untermauerung zitierte das Religionsamt aus dem Koran: «Sagt den gläubigen Frauen, sie sollen ihren Blick senken und ihre Keuschheit und Sittsamkeit bewahren. Sie sollen ihr Kopftuch über der Brust tragen.»

Widerstand von den Frauen

Eine prominente muslimische Intellektuelle tat daraufhin das Gegenteil. Aus Protest gegen die Predigt legte die islamische Frauenrechtlerin Berrin Sönmez mit 64 Jahren ihr Kopftuch ab und trat erstmals mit offenem grauem Haar an die Öffentlichkeit. Sie werfe ihr Kopftuch dem Religionsamt vor die Füsse, erklärte sie dem unabhängigen Internetsender Media Scope.

Missbrauchtes Religionsamt?

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Das türkische Religionsamt wurde einst von Staatsgründer Atatürk geschaffen, um dem Staat die Kontrolle über den Islam und die Gesellschaft zu sichern. Nicht einkalkuliert hatte Atatürk, dass der Staatsapparat einmal islamistischen Kräften zufallen könnte, die das Religionsamt für ihre Zwecke nutzen, und dass dann Predigten wie jene vom 1. August in den Moscheen des Landes verlesen würden.

«Das staatliche Religionsamt ist ein Propagandainstrument der Regierung. Wenn die Regierung etwas einführen will, dann nutzt sie dafür das Religionsamt, um es der Gesellschaft in die Adern zu flössen», sagt die Frauenrechtlerin.

Die Botschaft lautet: Die Männer sollen wieder die Macht in der Familie übernehmen.
Autor: Berrin Sönmez Türkische Frauenrechtlerin, wehrt sich gegen Kleidervorschriften

«Die Nacktheit, die von vielen Medien und der Werbung normalisiert wird, ist ein Angriff auf die Institution der Familie», hiess es in der Predigt vom 1. August weiter. Das sei ein verschlüsselter Aufruf an die türkischen Männer, sagt Sönmez.

Die Männer sollen das Sagen haben

95 Prozent der Zuhörer in den Moscheen der Türkei seien Männer. «Das Freitagsgebet wendet sich also an die Männer und fordert sie auf, die Familie zu schützen. Der Begriff Familie ist dabei ein Codewort für die Herrschaft der Männer. Die Botschaft lautet: Die Männer sollen wieder die Macht in der Familie übernehmen. Und die Ergebnisse sehen wir in der Gesellschaft», sagt Sönmez.

Tatsächlich wurde wenige Tage nach der Predigt eine Frau in Istanbul auf der Strasse angegriffen, weil sie kurze Hosen trug. Das geschehe ihr recht, kommentierte ein Politiker aus Erdogans AKP-Partei. Wenn sie halb nackt herumlaufe, verdiene sie es nicht anders.

Frauenrechtlerin Sönmez befürchtet, dass die Kampagne eine staatliche Kopftuchpflicht vorbereiten soll. Nie hätte sie das in der Türkei für möglich gehalten: «Ich habe immer gesagt, das wäre in der Türkei nie geschehen. Aber ich glaube, jetzt steht es kurz bevor.»

SRF 4 News aktuell, 13.8.2025, 6:25 Uhr; sten

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