Dem britischen Premierminister Keir Starmer schlägt ein rauer Wind entgegen. Seine Beliebtheitswerte sinken stetig. Den Alltag der Briten konnte er kaum verbessern. Nun sorgt ein weiterer Vorfall für Schlagzeilen: Ein ehemaliger Asylbewerber, der wegen Sexualdelikten inhaftiert war, wurde versehentlich freigelassen. SRF-Grossbritannienkorrespondent Patrik Wülser über die missliche Lage Starmers.
Inwiefern fällt die irrtümliche Entlassung eines Sexualstraftäters auf Starmer zurück?
Natürlich zeigen nun viele mit dem Finger auf Stamer. Dass ein verurteilter Sexualstraftäter irrtümlicherweise einfach entlassen wird, ist aber einem Strafvollzug geschuldet, der seit Jahrzehnten hoffnungslos überlastet ist – also weit länger, als Starmer im Amt ist. Das Gefängnispersonal ist unterdotiert und überfordert, die Zellen sind völlig überbelegt, man sieht Schimmel, Kakerlaken und Unrat. In einem solchen System können eben solche Fehler passieren. Der jüngste Vorfall erschüttert das Vertrauen in den Staat und vermittelt für viele einmal mehr den Eindruck, dass in diesem Land nichts mehr funktioniert.
Als neue stellvertretende Parteivorsitzende hat die Labour eine Kritikerin von Starmer gekürt. Ein weiterer Rückschlag?
Ja, Starmer hat zwar die Fassung bewahrt und sich glücklich gezeigt. Aber es ist kein Geheimnis, dass er seine Kabinettskollegin Bridget Phillipson bevorzugt hätte. Die Basis hat jedoch Lucy Powell gewählt, eine Vertreterin des linken Flügels der Partei. Noch vor wenigen Monaten hat sie Starmer aus dem Kabinett geworfen, jetzt ist sie seine Stellvertreterin. Die Wahl wird als Zurechtweisung durch die Parteibasis verstanden, die Starmers Mitte-Rechts-Kurs nicht mehr goutiert.
Auch in Wales droht die Wählerbasis von Labour wegzubrechen. Was ist dort passiert?
Die Leute in Wales sind nicht zufrieden. In ihrem Alltag hat sich nichts geändert, obwohl die Labour einen Wandel, einen Aufbruch versprochen hat. Die Schlaglöcher sind immer noch da. Der Bus fährt nur zweimal pro Tag. Und in den stillgelegten Minenstädten im Süden von Wales gibt es keine neuen Jobs. Labour gehört zur DNA dieser Städte, doch die Bevölkerung hat sich verändert. Es gibt dort keine Mineure mehr, sondern eben viele unzufriedene, oft junge Arbeitslose, die lieber die Partei «Reform UK» oder die Nationalisten wählen.
Auch die Tories verloren in Wales viele Stimmen, während Nigel Farages Partei «Reform UK» deutlich zulegte – ein Trend für ganz Grossbritannien?
In diesem Ausmass ist es sicher einzigartig. Aber das ist ja nicht einfach eine Niederlage, sondern eher eine Atomisierung, eine Pulverisierung einer Partei. Und das passt für ganz Grossbritannien ins grosse Bild. Die stolzen Tories, die Konservativen, die dieses Land in den letzten 100 Jahren mehrheitlich geprägt und regiert haben – sie sind heute eine unbedeutende Show an der Seitenlinie der britischen Politik geworden.
Sind Nigel Farages Rechtspopulisten im Begriff, die politische Landschaft Grossbritanniens grundlegend umzugestalten?
Soweit ich das beurteilen kann, ja. Es scheint, als nehme Grossbritannien Abschied vom Zweiparteiensystem, von diesem Oppositionssystem, in dem Labour und die Tories jahrzehntelang fast naturgegeben sich auf den Regierungsbänken im Unterhaus abgewechselt haben. Die Grünen, die Liberaldemokraten, gewinnen an Boden. Aber die eigentliche Oppositionsmacht heisst heute tatsächlich «Reform UK» – angeführt von Farage, der die politische Landschaft umgestaltet.