Downing Street, 5. Juli 2024: Nach einem kolossalen Wahlsieg wurde Keir Starmer vom König mit der Bildung einer Labour-Regierung beauftragt. Mit dem Wahlversprechen «Change» – Wandel – fegte er die Tories nach 14 Jahren an der Macht aus dem Amt.
Aber ein gutes Jahr später hat sich in erster Linie eines gewandelt: die Begeisterung für Starmer und seine Regierung. Während sich der britische Premierminister auf der internationalen Bühne als Vermittler profilieren konnte, blieb in Grossbritannien das unveränderte Grundgefühl, dass nichts mehr funktioniert.
Was bloss sind Starmers Ziele?
Vierzehn Monate nach Starmers Amtsantritt wartet das Publikum immer noch auf eine Erklärung, was er eigentlich genau will und wofür seine Partei steht. Das Vakuum füllen längst andere. Am lautesten Nigel Farage, der sich mit plakativen Rezepten gegen die irreguläre Einwanderung als künftiger Premierminister in Position bringt.
Was ist das für eine Partei, welche die Renten für Pensionierte und Behinderte kürzt, aber die Superreichen verschont?
Unter Druck kommt der Premierminister aber ebenso von links. Propalästinensische Demonstranten protestieren in Liverpool gegen die zögerliche Haltung Starmers gegenüber Israel. Für Unmut sorgt auch die angekündigte Verschärfung der Migrationspolitik. Für viele Labour-Mitglieder schielt Starmer zu stark nach rechts. Und selbst das symbiotische Verhältnis mit den Gewerkschaften wird immer brüchiger.
Die Regierung scheine die Sorgen der kleinen Leute nicht mehr zu verstehen, meint eine Gewerkschafterin: «Viele Leute kommen ins Grübeln, für wen und was diese Partei eigentlich steht. Was ist das für eine Partei, welche die Renten für Pensionierte und Behinderte kürzt, aber die Superreichen verschont und nicht Geld in die Schaffung von Arbeitsplätzen investiert?»
Es geht um nichts weniger als den Kampf um die Seele unseres Landes.
Der frühere Labour-Chef Jeremy Corbyn hat aus diesem Grund sogar unlängst eine neue linke Partei gegründet. Das ist für Starmer eine ungemütliche Situation. Seine Umfragewerte sind nicht nur im Sinkflug – sie sind regelrecht abgestürzt.
Eine Erweckungspredigt von Sir Starmer
In einem schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte und pastoraler Rhetorik versuchte Starmer am Parteitag in Liverpool seine Genossinnen und Genossen aus dem Tal der Finsternis zu führen: «Grossbritannien steht an einer Weggabelung: Wir können uns für politischen Anstand entscheiden oder eine weitere Spaltung der Gesellschaft. Ich und meine Regierung stehen für die Erneuerung dieses Landes, das Stolz auf seine Werte ist. Der Weg in eine bessere Zukunft wird nicht einfach sein. Es geht um nichts weniger als den Kampf um die Seele unseres Landes. Diese Aufgabe erfordert uns alle.»
Starmers Parteitagsrede war eine Mischung aus Erweckungspredigt und Beschwörungsritual. Moralisch und grammatikalisch korrekte Sätze mit Subjekt, Prädikat und Objekt. Am Ende aber doch eher abstrakte Wortwolken, durch die ein bisschen Sonne scheint.
Die Delegierten im Saal applaudierten frenetisch. Doch hinter den Kulissen wächst der Druck auf den Premierminister. Sollte Labour im kommenden Mai die Regionalwahlen in Wales und Schottland verlieren, dürfte Starmer wohl wieder den König aufsuchen müssen. Allerdings nicht, um eine Regierung zu bilden. Sondern um seinen Rücktritt einzureichen.