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US-Militärhilfe für Ukraine Es droht ein geopolitisches Erdbeben

Die Rechnung von Mark Cancian ist einfach: «Vor dem Krieg haben die USA rund 8000 Artilleriegranaten pro Monat hergestellt. Inzwischen sind es 30'000. Auch wenn die Europäer nochmals etwa gleich viele herstellen: Die Ukrainer verschiessen pro Monat zwischen 180'000 und 240'000 Artilleriegranaten.»

Der ehemalige Marine-Oberst der US-Navy und heutige Militäranalyst der Denkfabrik Center for Strategic and International Studies schüttelt den Kopf: «Es ist enttäuschend zu sehen, dass der US-Kongress seine Verpflichtung gegenüber der Ukraine nicht wahrzunehmen scheint.»

Geopolitik gegen «America First»

Mehr als 44 Milliarden Dollar Militärhilfe haben die USA in den letzten zwei Jahren seit Beginn der russischen Aggression für die Ukraine bereitgestellt. Ende Jahr wird dieses Geld aufgebraucht sein, sagt das Weisse Haus. Deshalb bat Präsident Biden den Kongress dringlich um eine neue Tranche von 60 Milliarden Dollar für die Ukraine.

Im von den Republikanern kontrollierten Repräsentantenhaus will eine kleine Gruppe von Rechtsaussen-Trumpianern diese Ukrainehilfe auf keinen Fall bewilligen. Sie folgen Trumps «America First»-Credo und wollen die USA aus ihrer geopolitischen Führungsrolle in einen Isolationismus wie vor dem Zweiten Weltkrieg zurückführen. Ein grösserer Teil der Republikaner will weitere Hilfe nur bewilligen, wenn das Weisse Haus dafür markante Konzession einzugehen bereit ist, vor allem in der Migrationspolitik.

Doch die knappen Mehrheiten in den beiden Kammern und der Nihilismus des Trump-Flügels bedeuten, dass selbst Kompromissvorschläge nicht sicher durchkommen würden.

Auswirkungen über Ukraine hinaus

Die Auswirkungen, die eine Verweigerung weiterer US-Unterstützung für die Ukraine auf der weltpolitischen Bühne hätte, bewegten Präsident Biden diese Woche zu einem seiner äusserst seltenen spontanen Auftritte: «Die Republikaner im Kongress sind dabei, Putin das grösste Geschenk zu machen, das er sich erträumen kann: die Aufgabe des amerikanischen Führungsanspruchs, nicht nur in der Ukraine, sondern darüber hinaus.»

Dass auch manche republikanischen Abgeordneten dies sehen, zeigt die Aussage von Idahos Senator Jim Risch. Beim Aspen Sicherheitsforum diese Woche in Washington sagte er: «Wenn die USA die Ukraine tatsächlich nicht weiter unterstützt, dann mache ich mir Sorgen, was unsere Feinde daraus für Schlüsse ziehen.» Er fügte hinzu: «Noch viel mehr Sorgen bereitet mir jedoch, was unsere Freunde für Schlüsse ziehen.»

Drohende nukleare Aufrüstungsspirale

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs basiert die US-Aussenpolitik auf einem vielfältigen Netzwerk von militärischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Allianzen. Trump versuchte zwar während seiner Amtszeit, die USA aus diesen Allianzen zumindest teilweise herauszuführen, doch Nachfolger Biden stärkte sie gerade in Pazifikraum mit neuen Initiativen wie AUKUS, der US-Militärallianz mit Australien und Grossbritannien, oder Quad, der diplomatischen Sicherheitsallianz mit Australien, Japan und Indien.

Wenn die USA die Ukraine aufgeben, so würde dies in den Hauptstädten all dieser Länder ernsthafte Bedenken an den amerikanischen Sicherheitsgarantien auslösen. Das wiederum könnte etwas auslösen, das die USA und die ganze Welt nicht sicherer macht, sondern im Gegenteil: «Wenn wir unsere Aufgabe in der Ukraine nicht erfüllen», so sagt es Senator Risch, «dann könnte dies die grösste nukleare Aufrüstungsspirale in Gang setzen, die wir je gesehen haben.»

Pascal Weber

USA-Korrespondent

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Pascal Weber arbeitet seit 1999 für SRF. Als Redaktor und Produzent war er zunächst in der Sportredaktion tätig, danach bei «10vor10». Von 2010 bis 2021 war er als Korrespondent im Nahen Osten. Er lebte zuerst in Tel Aviv, dann lange Jahre in Kairo und Beirut. Nun arbeitet er für SRF in Washington.

Tagesschau, 8.12.2023, 12:45 Uhr

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