Nur ganz wenigen Staatsoberhäuptern ist es gegönnt, vor dem amerikanischen Kongress zu sprechen. Noch weniger dürfen gar mehr als einmal dort auftreten: Winston Churchill etwa, oder Nelson Mandela. Und jetzt steht auch Narendra Modi auf dieser Liste.
Der Staatsempfang samt zweiter Rede vor dem Kongress für den indischen Premierminister zeigt die enorme Bedeutung, die Indien für die USA gewonnen hat. Der «Economist» beschrieb die Beziehung in seinem aktuellen Heft gar als «die möglicherweise bedeutendste des 21. Jahrhunderts».
Da sieht US-Präsident Joe Biden, der noch in seinem Wahlkampf demokratische Werte und Menschenrechte so hervorgehoben hatte, pragmatisch über Modis Hindu-Nationalismus und die wachsende Feindseligkeit gegenüber 200 Millionen Muslime oder Christen im Land hinweg. Und auch über Indiens auf Öl- und Waffenkäufen beruhende Beziehung zu Russland. Denn die USA brauchen Indien in ihrem Bemühen, China einzudämmen.
«Die USA wollen Indien so weit stärken, dass es selbständig für seine eigenen Interessen kämpfen kann», sagt Richard Rossow. Er ist ein gefragter Gesprächspartner in diesen Tagen vor dem Staatsbesuch von Narendra Modi. Rossow leitet die Indien-Abteilung des Zentrums für strategische und internationale Studien CSIS in Washington. «Die Sicherheitsinteressen Indiens und der USA überschneiden sich angesichts von Chinas Aufstieg immer mehr.»
Sicherheit und Wirtschaft
Die USA erhoffen sich von Indien, dass es entlang seiner Landgrenze chinesische Militärmacht zu binden vermag. Oder dass es mit seiner Flotte weiterhin den Indischen Ozean dominieren und kontrollieren kann. Und dass es seine Wirtschaft weiter liberalisiert.
«Indien ist bereits ein bedeutender Handelspartner der USA. Aber verglichen mit China, Mexiko oder Kanada liegt Indien immer noch weit zurück. Das wollen wir ändern», so Rossow. Denn der Riese Südost-Asiens wächst rasant.
Goldman Sachs prognostiziert für Indien in den nächsten 50 Jahren das stärkste Wachstum weltweit. Sein Bruttosozialprodukt wird bis 2028 dasjenige von Deutschland oder Japan übertreffen. Angesichts seiner gigantischen Bevölkerung wird Indien jedoch pro Kopf gerechnet vergleichsweise arm bleiben.
Kein Verbündeter
Dabei ist Indien kein einfacher Partner. Indien gehörte vor mehr als 60 Jahren zu den Gründungsmitgliedern der sogenannten Bewegung der Blockfreien Staaten. Länder, die sich im Ost-West-Konflikt nach dem 2. Weltkrieg neutral verhalten und keinem der beiden Militärblöcke angehören wollten.
Heute sieht sich Indien als Anführer des sogenannten «Globalen Südens», und achtet peinlichst genau auf Eigenständigkeit – auch gegenüber den USA. So wird Indien kaum je zu einem Verbündeten innerhalb einer westlichen Allianz werden.
«Es gibt viele Herausforderungen», sagt Rossow und holt tief Luft: «Wann immer die USA versuchen werden, die Welt hinter sich zu scharen und zu rufen: das ist unser neuer gemeinsamer Feind, dann wird Indien abseitsstehen. Und schon gar nicht will es unter Druck gesetzt werden, doch mitzumachen. Die zweite grosse Herausforderung wird sein, dass Indien zumindest in seiner Nachbarschaft die führende Rolle für sich beansprucht. Dabei sind es die USA nicht gewohnt, sich anderen Ländern einzureihen.»
Doch angesichts der chinesischen Bedrohung, ist Rossow überzeugt, tun die USA gut daran, die Beziehung zu Indien pragmatisch zu sehen. So wie es Indien seinerseits auch tut.