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Verbrechen an Bevölkerung Kolumbien: Morden für Medaillen

Die Armee tötete 6402 Zivilisten und gab sie als gefallene Guerilleros aus. Richter wollen wissen: Wer gab den Befehl?

Luz Marina Bernal zündet eine Kerze für ihren Sohn an: Fair Leonardo wurde im Alter von 26 Jahren ermordet, von der Armee. Ein Staatsanwalt sagte der Mutter, ihr Sohn sei ein Anführer einer Guerilla-Einheit gewesen und in einem Gefecht mit dem Militär gefallen, mit einer Waffe in der rechten Hand. Damals, im Jahr 2008, war Kolumbien im bewaffneten Konflikt. Soldaten galten für viele, auch für Bernal, als Nationalhelden, die die Farc-Guerilla bekämpften und das Volk beschützten.

Die Mutter antwortete dem Staatsanwalt in felsenfester Überzeugung: Fair Leonardo ein Guerillero? Das sei unmöglich. «Mein Sohn war ein Kind in einem grossen Körper», erzählt sie. «Er lernte nie lesen und schreiben. Kannte den Wert des Geldes nicht. Konnte das rechte Bein und den rechten Arm nicht wirklich bewegen.»

Sie konnte die körperlichen und geistigen Einschränkungen ihres Sohnes anhand dessen Krankengeschichte belegen. Bereits im Mutterleib war er bei einem Autounfall schwer verletzt worden. Der Fall ihres Sohnes war der erste, der von der Justiz anerkannt wurde – als einer von mehr als 6000 Morde an unschuldigen Bürgern durch das Militär.

Prämien für Tote

Regelmässig präsentierte die Armee in den 2000er-Jahren vor laufenden Kameras Leichensäcke, nach dem Motto: Je mehr tote Guerillakämpfer, desto grösser der Erfolg. Die Ministerialdirektive 29 aus dem Jahr 2005 legte sogar Geldprämien für getötete Guerillakämpfer fest, zudem bekamen Soldaten freie Tage oder auch Medaillen.

Für die Aufklärung dieser Verbrechen ist in Kolumbien die Sonderjustiz für den Frieden zuständig, so wurde es 2016 im Friedensvertrag mit der Farc-Guerilla vereinbart. Es ist eine gigantische Aufgabe: Mehr als 260'000 Menschen wurden zwischen 1958 und 2018 ermordet. Davon mindestens 36'000 von verschiedenen Guerillagruppen und 94'000 durch Paramilitärs, die zum Teil Bündnisse mit dem Militär eingegangen waren, das konnten das Gericht in einigen Fällen bereits belegen.

Bisher hatten die Richter ehemalige Guerilleros aufgrund ihrer Taten angeklagt. Doch in den ersten zwei Juliwochen kamen nun auch die ersten Militärs an die Reihe, weitere werden folgen.

Bauern in Falle gelockt

Einer der wichtigsten Zeugen vor Gericht ist Aladino Ríos. Er überlebte knapp einen solchen Mordversuch des Militärs vor 14 Jahren. Für das Interview mit SRF erklärt er sich bereit, zu dem Waldweg zu fahren, auf dem er getötet werden sollte. Ihm war Arbeit auf einer Finca versprochen worden, ahnungslos stieg er ins Auto. Die Soldaten warteten bereits – es war eine Falle.

Zunächst blieb Ríos ruhig, dachte an eine Verwechslung, «ich hatte ja nichts getan». Dann schossen sie aus nächster Nähe auf ihn. Ríos rannte um sein Leben. Mehrere Kugeln trafen ihn, doch er schaffte es in den Wald und versteckte sich, bis die Soldaten aufhörten, ihn zu suchen.

Ein anderer Bauer, der mit ihm zusammen zum Tatort gelockt worden war, überlebte nicht. «Ich habe gesehen, dass er gefesselt war. Und Tage später habe ich erfahren, dass sie ihn ermordet und als Kämpfer der 13. Front der Farc-Guerilla ausgegeben habe», berichtet Ríos.

Doch warum ermordete das Militär Zivilisten, unschuldige Bauern wie ihn? Es sei darum gegangen, die Statistik aufzubessern, sagt Ríos: «Guerillakämpfer kann man nicht so leicht töten. Sie sind bewaffnet. Sie sind in den Bergen. Sie kämpfen. Ein Bauer nicht. Wir fangen ihn, fesseln ihn, ziehen ihm eine Uniform an und geben ihn als Guerillero aus, fertig.»

Wer gab den Befehl?

Immer wieder waren in den letzten Jahren neue Fälle von ermordeten Zivilisten ans Licht gekommen. Nun bestätigte die Sonderjustiz im Zusammenhang mit Ermordungen in Nordostkolumbien offiziell: «Es waren keine isolierten, spontanen oder sporadischen Handlungen. Im Gegenteil, alle diese Taten sind miteinander verbunden und wurden als Teil eines systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen. Es sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit.»

Bisher haben sich vor allem Soldaten aus niederen Rängen bereit erklärt, mit dem Gericht zusammenzuarbeiten und auszusagen. Doch das Ziel der Richter ist klar. Sie wollen wissen: Wer gab den Befehl? Die Nachforschungen gehen weiter.

10 vor 10, 29.07.2021, 21:50 Uhr

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