Seit Tagen sorgen Massenentführungen in Nigeria für Entsetzen. Ende letzter Woche verschleppte eine bewaffnete Gruppe über 300 Kinder und Lehrer einer Katholischen Schule. Einige Tage zuvor betraf es zwei Dutzend Schülerinnen einer Muslimischen Schule. SRF-Korrespondent Fabian Urech über die Hintergründe.
Was ist bekannt über die Täterschaft?
Bis jetzt sehr wenig. Laut den nigerianischen Behörden hat sich noch niemand zu den Entführungen bekannt. Unklar ist auch, wo die Ermittlungen stehen. In Nigeria gehen inzwischen viele davon aus, dass Banditen für die Entführungen verantwortlich sind. Das war bei vergleichbaren Angriffen auf Schulen, Dörfer oder Kirchen schon oft der Fall.
Üblicherweise wollen diese Gruppen mit den Entführten Lösegeld erwirtschaften. Sie profitieren dabei von der prekären Sicherheitslage im Norden Nigerias.
Welche Rolle spielt die Religion bei den Entführungen?
US-Präsident Donald Trump behauptet, die Opfer seien in erster Linie Christinnen und Christen. In Nigeria finde ein eigentlicher Völkermord statt. Diese Analyse scheint mir krude, effekthascherisch und auch anmassend. Die Problemlage ist weitaus komplexer. Zwar spielt die Religion bei manchen Entführungen eine Rolle. So etwa, wenn Islamisten explizit auf christliche Glaubensgemeinschaften abzielen.
Die meisten Entführungen in Nigeria sind aber nicht religiös, sondern wirtschaftlich motiviert. In Nigeria ist in den letzten zehn, fünfzehn Jahren eine regelrechte Entführungsindustrie entstanden. Das hat deutlich mehr mit Armut und Entwicklungsproblemen als mit dem Islam oder dem Christentum zu tun.
Wie steht es um das Christentum in Nigeria?
Nigeria ist ein riesiges Land. Im Süden floriert das Christentum seit Jahrzehnten. Die Kirche ist dort allgegenwärtig und die Zahl der Gläubigen steigt steil an. Ich habe dort noch nie jemanden getroffen, der sich über mangelnde Religionsfreiheit beklagte – und schon gar nicht über einen angeblichen Genozid an der christlichen Gemeinschaft.
Wie wurden Entführungen zum Geschäftsmodell?
Mehr als 1.5 Millionen Dollar Lösegeld soll in den letzten Monaten gezahlt worden sein. Für das Verständnis ist ein Blick auf den wirtschaftlichen Gesamtkontext wichtig. Der Norden Nigerias steckt seit Jahren in einer tiefen Wirtschaftskrise, die die Menschen in ihrer Existenz bedroht.
Gerade heute warnt die UNO davor, dass im Frühjahr des kommenden Jahres 35 Millionen Menschen im Norden Nigerias Hunger leiden könnten. Diese grosse Not erklärt zumindest teilweise, warum manche in die Kriminalität abrutschen und offensichtlich bereit sind, grausame Dinge zu tun.
Ist der Staat nicht fähig, etwas zu unternehmen?
Es gibt durchaus Bemühungen, die Sicherheitslage zu verbessern. Die Regierung in der Hauptstadt Abuja versucht seit Jahren, sich der Gewalt im Norden militärisch entgegenzustellen. So etwa mit spezialisierten Truppen, die besser ausgerüstet sind. Das reicht aber offensichtlich nicht aus – man tut zu wenig oder sogar das Falsche.
Letztlich wird eine effektive Befriedung der Region aber nur möglich sein, wenn sich die Dinge insgesamt verbessern – wenn es also endlich eine Perspektive und eine bessere staatliche Versorgung für die Menschen gibt. Für Nigeria dürfte das aber fast schon eine Jahrhundertaufgabe sein.