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Verschleppung von Kindern Warum es in Nigeria immer wieder zu Massenentführungen kommt

Seit Tagen sorgen Massenentführungen in Nigeria für Entsetzen. Ende letzter Woche verschleppte eine bewaffnete Gruppe über 300 Kinder und Lehrer einer Katholischen Schule. Einige Tage zuvor betraf es zwei Dutzend Schülerinnen einer Muslimischen Schule. SRF-Korrespondent Fabian Urech über die Hintergründe.

Fabian Urech

Afrika-Korrespondent

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Fabian Urech ist seit dem Frühjahr 2024 Afrika-Korrespondent von Radio SRF. Er lebt in Ghanas Hauptstadt Accra. Zuvor war er während sieben Jahren Afrika-Verantwortlicher der «NZZ».  

Was ist bekannt über die Täterschaft?

Bis jetzt sehr wenig. Laut den nigerianischen Behörden hat sich noch niemand zu den Entführungen bekannt. Unklar ist auch, wo die Ermittlungen stehen. In Nigeria gehen inzwischen viele davon aus, dass Banditen für die Entführungen verantwortlich sind. Das war bei vergleichbaren Angriffen auf Schulen, Dörfer oder Kirchen schon oft der Fall.

Tausende Entführte in den letzten zwölf Monaten

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Die Fälle erinnern an ähnliche Massentführungen vor gut zehn Jahren, als die islamistische Terrorgruppe Boko Haram im Norden Nigerias fast 300 Schülerinnen entführte. Danach geriet das Thema wieder in den Hintergrund.

Doch in diesem Jahr haben Fälle von gewaltsamer Verschleppung von Kindern und Jugendlichen wieder stark zugenommen. Laut Schätzungen wurden in Nigeria innerhalb eines Jahres rund 4700 Personen entführt.

Üblicherweise wollen diese Gruppen mit den Entführten Lösegeld erwirtschaften. Sie profitieren dabei von der prekären Sicherheitslage im Norden Nigerias.

In diesem Internat in Kebbi wurden Hunderte Schülerinnen entführt (18.11.2025).
Legende: In diesem Internat in Kebbi wurden Hunderte Schülerinnen entführt (18.11.2025). Keystone/AP/Tunde Omollehin

Welche Rolle spielt die Religion bei den Entführungen?

US-Präsident Donald Trump behauptet, die Opfer seien in erster Linie Christinnen und Christen. In Nigeria finde ein eigentlicher Völkermord statt. Diese Analyse scheint mir krude, effekthascherisch und auch anmassend. Die Problemlage ist weitaus komplexer. Zwar spielt die Religion bei manchen Entführungen eine Rolle. So etwa, wenn Islamisten explizit auf christliche Glaubensgemeinschaften abzielen.

Die meisten Entführungen in Nigeria sind aber nicht religiös, sondern wirtschaftlich motiviert. In Nigeria ist in den letzten zehn, fünfzehn Jahren eine regelrechte Entführungsindustrie entstanden. Das hat deutlich mehr mit Armut und Entwicklungsproblemen als mit dem Islam oder dem Christentum zu tun.

Wie steht es um das Christentum in Nigeria?

Nigeria ist ein riesiges Land. Im Süden floriert das Christentum seit Jahrzehnten. Die Kirche ist dort allgegenwärtig und die Zahl der Gläubigen steigt steil an. Ich habe dort noch nie jemanden getroffen, der sich über mangelnde Religionsfreiheit beklagte – und schon gar nicht über einen angeblichen Genozid an der christlichen Gemeinschaft.

Wie wurden Entführungen zum Geschäftsmodell?

Mehr als 1.5 Millionen Dollar Lösegeld soll in den letzten Monaten gezahlt worden sein. Für das Verständnis ist ein Blick auf den wirtschaftlichen Gesamtkontext wichtig. Der Norden Nigerias steckt seit Jahren in einer tiefen Wirtschaftskrise, die die Menschen in ihrer Existenz bedroht.

Vertriebene aus dem Nordosten Nigerias in einem Flüchtlingscamp.
Legende: Laut Urech gibt es im Norden Nigerias kaum Jobs und Schulen, und auch die Gesundheitsversorgung ist in einem prekären Zustand. Getty Images/Anadolu/Mehmet Kaman

Gerade heute warnt die UNO davor, dass im Frühjahr des kommenden Jahres 35 Millionen Menschen im Norden Nigerias Hunger leiden könnten. Diese grosse Not erklärt zumindest teilweise, warum manche in die Kriminalität abrutschen und offensichtlich bereit sind, grausame Dinge zu tun.

Ist der Staat nicht fähig, etwas zu unternehmen?

Es gibt durchaus Bemühungen, die Sicherheitslage zu verbessern. Die Regierung in der Hauptstadt Abuja versucht seit Jahren, sich der Gewalt im Norden militärisch entgegenzustellen. So etwa mit spezialisierten Truppen, die besser ausgerüstet sind. Das reicht aber offensichtlich nicht aus – man tut zu wenig oder sogar das Falsche.

Sandale in der Schule, wo Hunderte Mädchen entführt wurden.
Legende: Laut einer Unicef-Studie gibt es nur in einem Drittel aller Schulen ein Frühwarnsystem gegen Entführungen. «Für solche Unterlassungen wird Nigerias Regierung scharf kritisiert – und das zu Recht», sagt Urech. Keystone/AP/Tunde Omollehin

Letztlich wird eine effektive Befriedung der Region aber nur möglich sein, wenn sich die Dinge insgesamt verbessern – wenn es also endlich eine Perspektive und eine bessere staatliche Versorgung für die Menschen gibt. Für Nigeria dürfte das aber fast schon eine Jahrhundertaufgabe sein.

Echo der Zeit, 25.11.2025, 18 Uhr ; 

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