Eine schwarz verschleierte Muslimin hält ein grosses Foto ihres verschwundenen Bruders in der Hand: «Zivile Polizisten kamen kurz nach Mitternacht zu uns nach Hause und haben ihn mitgenommen. Das war vor elf Jahren. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.»
Ihr Bruder sei aktives Mitglied der oppositionellen BNP-Partei gewesen, der Bangladesh Nationalist Party, sagt die junge Frau bei einer Menschenkette von Angehörigen in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka. Doch die Polizei habe sich geweigert, auch nur eine Anzeige aufzunehmen.
Die Ungewissheit zerstörte ganze Familien
Die Ungewissheit über sein Schicksal habe die ganze Familie kaputt gemacht. Mehr als 700 Menschen sind in den 15 Jahren, in denen Sheikh Hasina und ihre Awami League regierten, durch die Polizei oder andere Strafverfolgungsbehörden verschleppt worden, schätzt die Menschenrechtsorganisation Odhika. Die tatsächlichen Zahlen könnten noch deutlich höher liegen.
Sanjida Islam ist Koordinatorin der Nichtregierungsorganisation Mayer Daakan – übersetzt: Der Ruf der Mütter – in der sich die Familien der gewaltsam Verschleppten organisiert haben. Auch ihr Bruder ist ein Opfer. Besonders viele Oppositionelle seien jeweils vor den Wahlen verschleppt oder ermordet worden, sagt die anfangs 40-Jährige. Das Regime von Sheikh Hasina, das sie faschistisch nennt, habe ihre Gegner verschwinden lassen, um an der Macht bleiben zu können.
Fünf Jahre in einem Raum ohne Licht
Michael Chakma ist einer von wenigen gewaltsam Verschleppten, die seit dem Regierungswechsel Anfang August freigelassen wurden. Die letzten fünf Jahre habe er in einem kleinen Raum ohne Licht verbracht, erzählt Chakma bei einem Treffen. Er setzt sich für die Rechte unterdrückter ethnischer Minderheiten im grenznahen, hochmilitarisierten Südosten Bangladeschs ein. Über seine Jahre in einem Gefängnis des militärischen Geheimdienstes sagt er: «Es war wie ein Grab.»
Nach seiner Verschleppung durch zivile Polizisten sei er wochenlang verhört worden. Immer wieder sei er gefragt worden, warum er die Regierung von Sheikh Hasina kritisiere. Er sei gefoltert worden. Und er habe kaum schlafen dürfen.
Opfersuche ist Priorität der neuen Regierung
Vom Rücktritt der alten Regierung bekam der heute 45-Jährige in seiner Zelle nichts mit. Eines Tages sei er geweckt, mit verbundenen Augen in ein Auto gesteckt und nach ein paar Stunden im Niemandsland ausgesetzt worden. Es war der 7. August, zwei Tage nach der Flucht Sheikh Hasinas nach Indien.
Die neue Übergangsregierung unter Nobelpreisträger Muhammad Yunus hat die Suche nach den Opfern zur Priorität erklärt. Eine Kommission soll bis Oktober einen Bericht zum Verbleib der Vermissten verfassen. Unter Yunus hat Bangladesch auch eine UNO-Konvention zu gewaltsam verschleppten Personen unterzeichnet.
Die Opferfamilien können wieder hoffen. Auch Michael Chakma. Er fordert nun die Bestrafung seiner Peiniger und Kompensation für die verlorenen fünf Jahre seines Lebens.