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«Wir dürfen nicht aufgeben»
Aus Echo der Zeit vom 10.12.2018. Bild: SRF. Susanne Brunner
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Vertriebene Jesiden im Irak Volk ohne Heimat

Alifa und Shirin haben die Massenmorde des IS an den Jesiden überlebt. Nun sind sie Vertriebene im eigenen Land.

Rund 10'000 Jesidinnen und Jesiden leben im kurdischen Teil Nordiraks in Flüchtlingslagern. Sie sind Vertriebene im eigenen Land, und das seit vier Jahren. Im August 2014 überfiel der IS ihre Dörfer und Städte in Sindschar. Wer konnte, flüchtete in die Berge. Andere wurden ermordet, einige Tausend Frauen aus dieser Region gefangen genommen, vergewaltigt und versklavt. Viele werden noch immer vermisst.

Das Flüchtlingslager von aussen betrachtet
Legende: Die neue Realität für viele Jesiden: Sie leben irgendwo im Niemandsland in Flüchtlingslagern – ihre Zukunft ist ungewiss. SRF/Susanne Brunner

Zurückkehren können die Vertriebenen nicht. Zu gross ist die Zerstörung in ihrer alten Heimat. Amnesty International dokumentierte in einem Bericht, wie der IS die Lebensgrundlage der Jesiden zerstört hat: Systematisch brannten die Kämpfer Felder und Obstbäume ab, zerstörten Strom- und Wasserleitungen, gossen Öl in Brunnen. Dazu kommen Gefahren wie Minen. Die jesidischen Vertriebenen leben zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Symbol der Hoffnung: ein Hochzeitskleid

Zwischen ein paar Schafen und einer Gruppe spielender Kinder steht ein Hochzeitskleid. Blütenweiss und schön drapiert auf einer Kleiderbüste. Ein Hochzeitskleid vor einem Flüchtlingszelt – ein ungewöhnliches Bild. Im kleinen Zelt rattert eine Nähmaschine.

Die jesidische Schneiderin bei der Arbeit
Legende: Ein bisschen Alltag im Flüchtlingslager, und ein Einkommen, das kaum zum Überleben reicht: Shirin arbeitet weiter als Näherin. SRF/Susanne Brunner

Eine junge Frau mit hochgestecktem Haar beugt sich über einen braunen Stoff. Shirin ist Jesidin und kommt aus Sindschar. Dort hat sie schon als Kind leidenschaftlich gerne genäht: Kleider für ihre Puppen, später für Freunde und Familie. Schliesslich eröffnete sie ihr eigenes Modegeschäft. Dieses lief drei Jahre lang gut. Dann kam der IS nach Sindschar.

«Dann wache ich auf – und alle sind weg»

Die Stimme der 27-Jährigen stockt. Sie konzentriert sich wieder auf ihre Näharbeit. Von der Nacht vom dritten August 2014, als der IS in Sindschar einfiel, und den Tagen, Wochen danach, redet sie nicht. Stattdessen von schlaflosen Nächten.

Kleider der jesidischen Schneiderin.
Legende: Shirin hatte ein eigenes Modegeschäft. Dann kamen die Schergen des IS. Heute verkauft sie ihre Kleider vor einem kleinen Atelier im Flüchtlingslager. SRF/Susanne Brunner

Nachts rauben ihr Albträume den Schlaf. Und am Tag träumt sie beim Nähen manchmal vor sich hin, sieht ihre Freundinnen, Verwandte oder ihre Kundinnen in Sindschar. Die verschleppt wurden oder tot sind. «Dann wache ich aus dem Tagtraum auf und sie sind alle gar nicht da,» sagt Shirin traurig.

«Sie haben unsere Psyche zerstört»

Im Gegensatz zu Shirin erzählt Alifa von der Gewalt und Zerstörung durch den IS. Die 22-jährige Jesidin kommt ebenfalls aus Sindschar. Das Flüchtlingslager, in dem sie lebt, ist etwas näher bei der irakisch-kurdischen Stadt Dohuk als das von Shirin. Sie erzählt von der Flucht vor dem IS aus Sindschar in die Berge.

Die brennenden Häuser. Die Entführungen. Die Massaker. Eltern, die ihre Kinder oder die eigenen Eltern zurücklassen mussten. Weil sie zu schwach waren, um in die Berge zu fliehen. Ihr Grossvater, der auf der Flucht starb. Die Bilder verfolgen die junge Jesidin: «Sie haben alles zerstört, unser Daheim, unsere Psyche, unsere Zukunft,» sagt sie.

Mit 22 die ganze Familie ernähren

Alifa selbst gelang die Flucht vor dem IS. Aber das Flüchtlingslager ist voll von Frauen, die von den brutalen IS-Kämpfern entführt, vergewaltigt und versklavt wurden. Ihre Geschichten hört sie täglich, weil sie mit ihnen arbeitet. Für das irakische Hilfswerk Reach, das von der deutschen Hilfsorganisation Care International Geld für Projekte in jesidischen Flüchtlingslagern erhält.

Alifa im Flüchtlingslager
Legende: Die UNO verurteilte die Verfolgung der Jesiden im Irak als Völkermord. Alifa hat das Grauen hautnah erlebt. SRF/Susanne Brunner

Die Geschichten verstärken ihre Hoffnungslosigkeit. Die ohnehin schon gross ist, weil sie eine neunköpfige Familie alleine ernährt: ihre Eltern und ihre jüngeren Geschwister. Ihre Mutter hat schwere psychische Probleme. Ihr Vater wurde vom IS gefangengenommen, kam aber gegen Bezahlung frei, gesundheitlich schwer angeschlagen. Er kann nicht arbeiten. «Alle mit nur 400 Dollar im Monat durchzubringen, ist schwer,» sagt Alifa.

«Nadia Murad kann uns helfen!»

In Alifas Flüchtlingslager sitzen viele Männer ohne Arbeit herum. Und die Frauen reden nicht über das, was ihnen der IS angetan hat. Trotz Nobelpreisträgerin Nadia Murad, die das Schweigen brach und der Welt von ihren Erfahrungen erzählte. Dass Murad den Nobelpreis bekam, war für Alifa der schönste Moment dieses Jahres.

Unseren Kindern wird in Sindschar genau dasselbe passieren wie uns. Wir werden seit Jahrhunderten verfolgt, immer sterben Leute – wir haben hier keine Zukunft!
Autor: Alifa

«Ich bin so glücklich, Nadia kann uns Jesidinnen helfen!», sagt sie. Mit helfen meint Alifa: der Welt klarzumachen, dass Jesidinnen wie sie im Irak keine Zukunft mehr haben. Sie versucht schon seit Jahren, nach Australien auszuwandern – bisher ohne Erfolg.

«Wenn wir weggehen, verlieren wir alles»

«Unseren Kindern wird in Sindschar genau dasselbe passieren wie uns. Wir werden seit Jahrhunderten verfolgt, immer sterben Leute – wir haben hier keine Zukunft! Ich will einfach nur weg von hier» sagt Alifa. Eine Frau und ein paar Männer hören ihr im Hilfswerksbüro des Lagers zu und sind gar nicht einverstanden mit ihr.

Nadia Murad
Legende: Nadia Murad ist eine Überlebende des vom IS verübten Genozids an den Jesiden. Am 10. Dezember erhielt die Menschenrechtsaktivistin in Oslo gemeinsam mit Denis Mukwege den Friedensnobelpreis. Keystone

«Wenn wir weggehen aus dem Irak, und dann auf der ganzen Welt verstreut sind: Dann verlieren wir alles – unsere Gemeinschaft, unsere Kultur, unsere Religion», wenden die Jesiden ein. Alifa wehrt sich. Ihre Religion behalte sie überall auf der Welt, sagt sie. Sie will einfach nur möglichst weit weg von hier.

«Als Menschen dürfen wir nicht aufgeben»

In ihrem Zelt näht Shirin den ganzen Tag. Für ihre Kleider verlangt sie kaum je mehr als drei Dollar. Mehr kann im Flüchtlingslager niemand bezahlen. Auch sie freut sich über den Friedensnobelpreis für «eine von ihnen», wie sie sagt. Aber im Gegensatz zu Alifa erhofft sie sich keine Hilfe von Nadia Murad.

Und sie will auch nicht auswandern. «Als Menschen dürfen wir nicht aufgeben, auch wenn uns Schlimmes widerfährt. Dann müssen wir erst recht mutig sein, und unseren Familien, unserer Gemeinschaft helfen», sagt sie.

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