- 19 Jahre nach der letzten Volkszählung werden in Pakistan in den kommenden Wochen die Bevölkerungsdaten erhoben.
- Seit 1998 hat sich die Zahl der Einwohner wohl beinahe verdoppelt, das könnte auch zahlenmässige Verschiebungen bei den Ethnien bedeuten.
- Es gehe beim Zensus auch um Macht und Einfluss, sagt SRF-Korrespondent Thomas Gutersohn. Deshalb könnte es nach Vorliegen des Ergebnisses zu Protesten kommen.
SRF News: Was wird bei der Volkszählung in Pakistan genau erfasst?
Thomas Gutersohn: Es sind vier Dinge, welche die rund 91'000 Volkszähler bei den Familienoberhäuptern zuhause erfragen: Zahl der Kinder und deren Alter, Bildung, Religion sowie Muttersprache. Das soll der Regierung Aufschluss über die Minderheiten in Pakistan geben. Heute etwa geht man von zwei bis zehn Millionen Christen oder von zwei bis vier Millionen Hindus aus, die in Pakistan leben. Die Volkszählung soll ans Licht bringen, wie viele es tatsächlich sind.
Was will die Regierung neben einer genaueren Übersicht über die religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung sonst noch herausfinden?
Die Weltbank geht davon aus, dass sich die Bevölkerung seit der letzten Volkszählung 1998 fast verdoppelt hat, was grosse wirtschaftliche und soziale Veränderungen mit sich bringt. So leben heute viel mehr Menschen in den Städten als auf dem Land – einerseits, weil es dort mehr Arbeit gibt, andererseits, weil die Städte vergleichsweise sicherer geworden sind. Die neuen Daten der Volkszählung werden bestimmen, wie die staatlichen Ressourcen auf die Gemeinden verteilt werden. Das betrifft ebenso die Zahl der Arbeitsplätze in den lokalen Behörden wie die Verteilung der Parlamentssitze auf die Wahlbezirke.
Die Daten der Volkszählung bestimmen, wie die staatlichen Ressourcen auf die Gemeinden verteilt werden.
Könnten sich als Folge der Volkszählung demnach die machtpolitischen Verhältnisse verschieben?
Durchaus. Tatsächlich fürchten feudale Landbesitzer oder Lokalpolitiker um ihren Einfluss. Sie könnten künftig weniger Geld aus Islamabad erhalten oder ihren Sitz im nationalen Parlament verlieren. Nächstes Jahr wird in Pakistan neu gewählt, die Volkszählung kommt also zu einem politisch sehr sensiblen Zeitpunkt.
Ist mit Widerstand gegen das Ergebnis der Volkszählung zu rechnen?
Die grösste Oppositionspartei des Landes hat ihren Widerstand bereits angekündigt und beim obersten Gericht reklamiert, die Regierung wolle die Ergebnisse fälschen. Tatsächlich könnte die Machtbasis von Ministerpräsident Nawaz Sharif schrumpfen, weil sich das Bevölkerungswachstum in seiner Heimatregion Punjab an der Grenze zu Indien verlangsamt hat. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Menschen besser gebildet sind als früher.
Nach Vorliegen der Ergebnisse Ende Mai könnte es durchaus zu Protesten kommen.
In der Unruhe-Provinz Belutschistan an der Grenze zu Afghanistan gibt es ein spezielles Problem: Dort wird gefordert, dass Hunderttausende afghanische Flüchtlinge noch vor der Volkszählung abgeschoben werden. Was steckt dahinter?
Die pakistanische Regierung hat angekündigt, dass sie auch die afghanischen Flüchtlinge im Land mitzählen will – schliesslich leben viele von ihnen schon seit Jahrzehnten im Land. Sie sind meist Paschtunen und in manchen Bezirken Belutschistans an der Grenze zu Afghanistan zahlreicher als die einheimischen Belutschen. Diese fürchten deshalb, zu einer Minderheit in ihrer eigenen Region zu werden. Schon letztes Jahr wurden rund 600'000 Afghanen in ihr Heimatland zurückgeschickt, dieses Jahr sollen ihnen 500'000 weitere folgen. Das ist sicher im Sinne der Belutschen, schliesslich will keine ethnische Minderheit in Pakistan an Einfluss verlieren. Zwar verzichten die Volkszähler explizit, nach der Ethnie zu fragen, doch allein die Frage nach der Muttersprache gibt genügend Auskunft über die Herkunft der Befragten.
Die Volkszählung dauert zehn Wochen, fast 200'000 Soldaten sichern die Aktion ab, weil man Angst vor Anschlägen hat. Was sagen die Leute in Pakistan zu dieser Zählung? Werden sie sich beteiligen?
Die Soldaten sind nicht nur zur Sicherheit da, sie werden auch ihre eigenen Befragungen durchführen. Denn vor allem unter den afghanischen Flüchtlingen vermutet das Militär zahlreiche Terroristen. Das verdeutlicht, wie sehr sich in Pakistan die Armee in die Politik einmischt und eine Art Schattenregierung bildet. Die Bevölkerung wird sich dem Zensus wohl beugen – und beugen müssen – gerade weil bei den Befragungen auch immer Soldaten mit dabei sind. Im Vorfeld der Volkszählung ist nicht mit Protesten zu rechnen. Zu solchen könnten es aber nach Vorliegen des Ergebnisses Ende Mai kommen. Dann wird klar sein, welche ethnischen und religiösen Gruppen wo gewinnen und wo verlieren.
Das Gespräch führte Susanne Schmugge.