Zum Inhalt springen

Vor dem Spiel Schweiz-Türkei Gedämpfte Stimmung bei den fussballverrückten Türken

Am Sonntag trifft die Schweiz in ihrem dritten Gruppenspiel an der Euro auf die Türkei. Für beide Mannschaften ist es ein Spiel der letzten Chance. Wer verliert, fliegt sicher aus dem Turnier. Im Interview schildert der in Istanbul lebende Journalist Thomas Seibert, was die EM für die Türken bedeutet.

Thomas Seibert

Journalist in der Türkei

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Thomas Seibert verdiente sich seine journalistischen Sporen bei der «New York Times» und den Nachrichtenagenturen Reuters und AFP, bevor er 1997 als freier Journalist in die Türkei ging. Nach einem kurzen Zwischenhalt als Berichterstatter in den USA kehrte er im Juni 2018 nach Istanbul zurück.

SRF News: Fussball hat in der Türkei einen hohen Stellenwert in der Bevölkerung. Wie äussert sich das?

Thomas Seibert: Die Türken sind geradezu vernarrt in den Fussball. Jeder Türke hat seine Heimmannschaft, zudem ist er Anhänger einer der grossen Istanbuler Clubs Besiktas, Fenerbahce oder Galatasaray. Die Anhängerschaften werden teilweise in den Familien vererbt und weitergegeben.

Wegen der Pandemie gilt in der Türkei derzeit ab 22 Uhr eine Ausgangssperre – kommt da überhaupt EM-Stimmung auf?

Es gibt in der Tat keine Public Viewings, auf der Strasse findet die EM nicht statt. Das Eröffnungsspiel gegen Italien vor einer Woche begann just mit der Ausgangssperre, da kam in der Öffentlichkeit natürlich überhaupt keine Stimmung auf.

Es tanzt niemand vor Freude auf der Strasse.

Allerdings hat das auch mit den enttäuschenden Niederlagen der Türken gegen Italien und Wales zu tun – vor Freude tanzende Menschen auf der Strasse sieht man also sowieso keine.

Erdogan gibt den Landesvater

Box aufklappen Box zuklappen
Legende: Reuters

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan war beim Spiel gegen Wales in Baku im Stadion. Er habe sich dort als Landesvater präsentiert, sagt der Journalist Seibert. «Doch auch für ihn gibt es natürlich nicht viel zu holen, sollten die Türken schon nach der Gruppenphase aus dem Turnier fliegen.»

Die Corona-Politik der Regierung wurde schon in der Vergangenheit stets kritisiert. Kommt jetzt angesichts der Ausgangssperre während der EM neuer Unmut auf?

Bislang nicht – doch auch diese Tatsache dürfte mit den zwei Niederlagen der Nationalmannschaft zu tun haben. Sollte sie wider Erwarten den Achtelfinal doch noch erreichen, könnten die Behörden aber durchaus geneigt sein, die Ausgangssperre etwas zu lockern.

Der Fussball bestimmt die Corona-Politik der Regierung? Wie stark ist denn die Verbindung von Politik und Fussball?

Die Türkei wäre grundsätzlich gerne ein Teil von Europa. Weil bei dem Thema eine Art Minderwertigkeitskomplex in der Luft liegt, sind Anlässe wie eine Fussball-Europameisterschaft jeweils nationalistisch aufgeladen – im Sinne von. «Jetzt zeigen wir es den Europäern!».

Die Fussball-EM ist jeweils nationalistisch aufgeladen.

Im türkischen Euro-2020-Song werden die Nati-Spieler denn auch als eine Art Soldaten dargestellt, die für ihr Land kämpfen. Dieser Nationalismus ist auch diesmal spürbar, doch angesichts der schlechten Spielergebnisse nur schwach ausgeprägt.

In den letzten Jahren war die Türkei trotz der Fussballversessenheit im Land bei WM- und EM-Turnieren wenig erfolgreich. Weshalb ist das so?

Ein Grund liegt in der mangelhaften Nachwuchsarbeit der grossen Vereine. Sie kaufen die Stars lieber ein, als selber junge Talente zu fördern. Die relative Erfolglosigkeit der Nationalmannschaft hätte dieses Jahr eigentlich beendet werden sollen, denn viele Spieler sind neu dazugestossen.

Die grossen Vereine kaufen lieber Stars ein – statt junge Talente zu fördern.

Manche von ihnen wurden im Ausland zu Fussballern ausgebildet, auf ihnen ruhten grosse Hoffnungen. Doch jetzt kann die Türkei bloss noch hoffen, die Schweiz im letzten Gruppenspiel möglichst hoch zu besiegen und so möglicherweise doch noch in den Achtelfinal vorzustossen.

Grosse Hoffnungen ruhen auf dem 69-jährigen türkischen Nationaltrainer. Wieso?

Senol Günes ist in der Türkei seit 2002 ein Held. Damals führte er die Türkei an der WM in den Halbfinal. Doch nach der 0:2-Niederlage gegen Wales sind auch von ihm bloss noch recht hoffnungslose Töne zu vernehmen.

Das Gespräch führte Isabelle Maissen.

SRF 4 News aktuell vom 18.6.2021, 06.20 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel