In Saudi-Arabien sollen Grenzschutzbeamte Hunderte Migrantinnen und Migranten aus Äthiopien erschossen haben. Saudi-Arabien hat die Vorwürfe der Menschenrechtsorganisation «Human Rights Watch» bestritten. Einmal mehr rückt die restriktive Flüchtlingspolitik der Golfmonarchie in den Fokus, doch eigentlich ist das Land auf Arbeitsmigranten angewiesen, wie der Golfstaaten-Experte Toby Matthiesen sagt.
SRF News: Die Opfer sollen aus nächster Nähe erschossen worden sein, darunter auch Kinder. Ist der Bericht von «Human Rights Watch» für Sie glaubwürdig?
Toby Matthiesen: Der Bericht enthält die Anschuldigung, es gebe einen staatlich legitimierten Richtungswechsel, der darauf abzielt, Migranten an der Grenze zu ermorden. Das wäre doch eine neue Ausrichtung der saudischen Politik. Saudi-Arabien hat dann auch direkt erklärt, es gebe keine solche Politik. Gleichzeitig muss man aber davon ausgehen, dass mindestens ein Teil dieser Vorwürfe stimmt.
Die Vorfälle ereigneten sich an der Grenze zum Jemen. Dort herrscht ein Bürgerkrieg, in den Saudi-Arabien involviert ist, weil es die jemenitische Regierung gegen die Huthi-Rebellen unterstützt. Welche Rolle spielt dies?
Die Saudis haben sich hier ins eigene Fleisch geschnitten. Indem sie im Jemen zu intervenieren versucht und das Land bombardiert haben, haben sie es noch weiter in die Unregierbarkeit gestürzt. Nun sind es auch Huthi-Rebellen, die mit Schleppern gemeinsame Sache machen und auch im südlichen Teil der jemenitisch-saudischen Grenze einige Lager kontrollieren. Die Huthi-Rebellen verdienen dabei Geld und nutzen das auch, um Druck auf Saudi-Arabien zu machen.
Saudi-Arabien ist aber auch eines der reichsten Länder der Welt – Jemen dagegen ein total zerstörtes Land. Dazu jagt gleich über der Meerenge ein Bürgerkrieg den anderen und die Leute wissen nicht mehr, wohin. Dies betrifft vor allem Menschen aus Äthiopien, die über die jemenitische Grenze nach Saudi-Arabien gelangen wollen – und das zu Zehntausenden.
Und der Migrationsdruck auf Saudi-Arabien wird tendenziell immer stärker?
Nicht nur auf Saudi-Arabien, sondern auch auf die kleineren Golfstaaten. Diese gehören mittlerweile zu den reichsten Ländern der Welt. Gleichzeitig sind sie umgeben von verarmten Staaten. Von Äthiopien, Eritrea oder Dschibuti kommt man sehr schnell nach Jemen auf die arabische Halbinsel.
Dieser Druck wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch stark zunehmen. Eigentlich ist es erstaunlich, dass man nicht schon viel früher viel mehr über diese neue Migrationsroute gesprochen hat. Geografisch macht sie einfach Sinn – es ist einfacher, nach Saudi-Arabien zu gelangen als nach Europa.
Wie restriktiv ist denn die Politik Saudi-Arabiens gegenüber Flüchtlingen und Migranten?
Man muss das differenziert betrachten. Saudi-Arabien hat zwar die Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet, hat aber in der jüngeren Geschichte immer wieder sehr grosse Bevölkerungsgruppen aufgenommen, etwa Palästinenser oder auch Syrer oder Rohingya – und eben auch viele Äthiopier und Äthiopierinnen. Aber die Saudis ändern auch oft ihre Präferenzen und entscheiden dann manchmal, ganze Bevölkerungsgruppen wieder auszuweisen – in den letzten Jahren vor allem Äthiopier.
Es gibt auch ein entsprechendes Abkommen mit Äthiopien, wegen des Bürgerkriegs funktioniert das aber einfach nicht mehr und es wollen wieder viel mehr Leute zurück nach Saudi-Arabien. Und diese Flüchtlingsströme wurden jetzt an der Grenze attackiert.