Zum Inhalt springen

Wahlen in der Türkei «Erdogan ist nicht nur strahlender Sieger»

Recep Tayyip Erdogan bleibt der starke Mann in der Türkei. Er wurde als Präsident wiedergewählt, seine AKP bleibt stärkste Partei im Parlament. Allerdings verlor sie die absolute Mehrheit, die rechtsnationalistische MHP wird wohl ihre Koalitionspartnerin.

Dies könnte Erdogan beim Regieren und insbesondere bei den dringend notwendigen wirtschaftlichen Reformen möglicherweise behindern, glaubt Thomas Seibert, Journalist in Istanbul.

Thomas Seibert

Journalist in der Türkei

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Thomas Seibert verdiente sich seine journalistischen Sporen bei der «New York Times» und den Nachrichtenagenturen Reuters und AFP, bevor er 1997 als freier Journalist in die Türkei ging. Nach einem kurzen Zwischenhalt als Berichterstatter in den USA kehrte er im Juni 2018 nach Istanbul zurück.

SRF News: Was bedeutet die Wiederwahl von Erdogan für die Türkei?

Thomas Seibert: Zunächst ist festzuhalten, dass das Wahlergebnis insgesamt einen richtiggehenden Rechtsrutsch bedeutet. Fast zwei von drei Wählern haben einer konservativen oder rechtsnationalistischen Partei ihre Stimme gegeben. Erdogan hat davon profitiert und seine Macht gefestigt, indem er mit der Einführung des Präsidialsystems jetzt auch offiziell Regierungschef ist. Die Opposition hatte trotz des lebhaften Wahlkampfs keine Chance.

Offenbar hat die Opposition keine konkreten Anhaltspunkte für einen Pfusch bei der Wahl.

Es gibt Berichte von Unregelmässigkeiten bei den Wahlen – solche gibt es rund um Erdogan immer wieder. Können die Vorwürfe dem Präsidenten noch gefährlich werden?

Das glaube ich nicht. Die Opposition beschwerte sich während des Wahltags am Sonntag immer wieder über angebliche Unregelmässigkeiten, allerdings ist bei der Wahlbehörde in Ankara bisher keine formelle Beschwerde eingereicht worden. Offenbar hat die Opposition also keine konkreten Anhaltspunkte für einen Pfusch bei der Wahl. Insgesamt gab die Opposition am Sonntagabend ein recht schwaches Bild ab – kein oppositioneller Spitzenpolitiker wagte sich vor die Kameras. Erdogans Herausforderer Muharrem Ince will sich erst heute äussern, während Erdogan schon drei Siegesreden gehalten hat.

Erdogan mit erhobenen Händen in der Nacht, unten viele Lichter von Anhängern.
Legende: Erdogan hat schon drei Siegesreden gehalten. Keystone

Erdogan ist nun Staats- und Regierungschef in einem, seinen Machtausbau hat das Volk legitimiert. Was muss man von Erdogan jetzt erwarten?

Trotz mehr Macht als Präsident und Regierungschef kann Erdogan nicht so durchregieren, wie er es sich erhofft hatte. Auch wenn das Parlament im neuen System weniger Rechte hat, braucht Erdogan die Volksvertretung zur Verabschiedung von Gesetzen.

Erdogan muss auf die MHP Rücksicht nehmen und wird womöglich weiter nach rechts geschoben, als er es eigentlich vorhatte.

Seine AKP hat im Parlament die absolute Mehrheit aber verloren und ist künftig auf ein Bündnis mit der ultranationalistischen MHP angewiesen. Erdogan muss also auf die MHP in gewisser Weise Rücksicht nehmen und wird womöglich weiter nach rechts geschoben, als er es eigentlich vorhatte.

Erdogan macht Kritiker mundtot, lässt Journalisten einsperren, seit zwei Jahren herrscht in der Türkei der Ausnahmezustand. Muss man damit rechnen, dass er die Schraube noch weiter anzieht?

Man muss zumindest damit rechnen, dass es in den nächsten Monaten und Jahren nicht weniger Repression geben wird. Erdogan hat eigentlich versprochen, den Ausnahmezustand aufzuheben, jetzt ist er dafür aber auf die Rechtsnationalisten angewiesen, die den Ausnahmezustand aufrechterhalten wollen. Erdogan steht nun vor einem Dilemma, denn er möchte den Ausnahmezustand vor allem aufheben, um die Wirtschaftskrise abzuwenden. Doch er wird sich damit möglicherweise nicht durchsetzen können.

Für ein Umsteuern in der Wirtschaft braucht Erdogan marktwirtschaftliche und demokratische Reformen.

Die Wahlen wurden mutmasslich vorgezogen, weil Erdogan eine weitere Verschlechterung der Wirtschaftslage fürchtet. Auch nach seinem Wahlsieg ist die drohende Krise nicht vom Tisch. Wie wird er das Problem jetzt angehen?

Das ist eine der zentralen Fragen. Erdogan braucht dringend Wirtschaftsreformen. Die türkische Währung, die Lira, hat stark an Wert verloren, Inflation und Arbeitslosigkeit steigen. Für ein Umsteuern braucht er marktwirtschaftliche und demokratische Reformen, was mit der Konstellation nach der Wahl allerdings kaum zu erwarten ist. Erdogan steht also vor einem Dilemma: Auf der einen Seite sind seine autokratischen Instinkte und der Rechtsrutsch bei der Wahl, auf der anderen Seite gibt es eine Notwendigkeit von politischen und wirtschaftlichen Reformen. Es ist völlig unklar, wie er beides verbinden will.

Erdogan hat seine Macht mit der Wahl zwar gefestigt – doch wie er sie tatsächlich nutzen kann, bleibt vorerst also noch offen?

Genau. Erdogan hatte sich von der Wahl eine vollkommene Macht im Präsidentenpalast und im Parlament erhofft. Doch nur als Präsident ist ihm das gelungen. Man muss jetzt erst mal sehen, was er aus dieser Konstellation macht. Klar ist: Erdogan ist nicht so ganz der strahlende Sieger.

Das Gespräch führte Isabelle Maissen.

Meistgelesene Artikel